Ich bin mit Miesepetern groß geworden, im Haus meiner Großeltern. Meine Großmutter hatte kaum Lebensfreude. Mein Großvater war ebenfalls ernst und streng. Die Onkel und Tanten, die regelmäßig zu Besuch kamen und die auch wir pflichtbewusst jeden 2. Sonntag besuchten, lachten nie.
Jeden Sonntag wurde die Kaffeetafel gedeckt. Es gab für jeden ein Stück Sahnetorte und ein Stück Sandkuchen. Bei Tisch wurde über Krankheiten gesprochen, Köpfe wurden geschüttelt, es wurde geseufzt, die Mienen waren besorgt. Man sprach darüber, was Nachbarn und Bekannten im Ort zugestoßen war, und es waren stets furchtbare Ereignisse und Unglücke. Wir Kinder saßen still dabei. Ich verstand nur Bruchteile dieser Erzählungen, kannte die Menschen nicht, über deren Schicksal geredet wurde, aber die flüsternden Stimmen und ernsten Gesichter sprachen für sich.
Um mich abzulenken, las ich in den bunten Blättchen meiner Tanten. Dort fand ich herzzerreißende Geschichten über Kinder, die ihre Mutter an den Krebs verloren hatten oder im Rollstuhl saßen und ich sah Bilder von schrecklichen Autounfällen.
Es waren die frühen 60iger Jahre, und neben Reportagen aus den Königshäusern waren Geschichten über schlimme Schicksale und Autounfälle grade aktuell. So habe ich es zumindest in Erinnerung, und die ist ja bekanntlich sehr selektiv.
Die gedrückte Stimmung wurde durch Sprüche vertieft, mit denen man uns Kinder zur Raison brachte, wenn wir zu laut wurden oder von uns erzählen wollten: „wer morgens lacht, den holt abends die Katz“, „man soll den Tag nicht vor dem Abend loben“, „Eigenlob stinkt“ und „Übermut tut selten gut“.
Meine Mutter erlöste uns von der Kaffeetafel, indem sie auf einen Sonntagsspaziergang bestand und uns im Wald toben ließ. Trotzdem hinterließ jede sonntägliche Kaffeetafel ein Gefühl der Bedrohung in mir. Ich hatte gelernt, dass das schöne Leben jederzeit durch Krankheiten und Unfällen beendet werden könnte. Die Sprüche meiner Großtanten verbanden sich mit Furcht und in mir wuchs die Befürchtung, dass mir oder meinen Liebsten Schlimmes widerfahren würde, wenn ich zu fröhlich, zu unbescheiden und glücklich werde.
Zum Glück sind Kinder sehr widerstandsfähig und nach und nach verblassten die Eindrücke der sonntäglichen Kaffeetafel und der freudlosen Mienen meiner Großeltern.
Doch in fröhlichen, unbeschwerten Momenten, da schleicht sich manchmal ein Hauch von Furcht ein, ein flüchtiger Gedanke, dass nach so viel Gutem etwas Schlimmes passieren könnte. Diesen Gedanken schiebe ich dann schnell zur Seite, ebenso wie ich ganz bewusst morgens im Auto meine Lieblingslieder mitsinge und dabei dem Wispern im Hinterkopf „wer morgens singt, den ….“ ein klares „jeder glückliche Moment ist wichtig“ entgegen setze.