Mutmacher: Meine Mutter oder es ist nie zu spät, das Leben zu genießen

Als meine Mutter in Rente ging, träumte sie davon, in einem Wohnmobil kreuz und quer durch Europa zu reisen. Mein Vater hielt nichts von dieser Idee und so blieb sie zuhause, kümmerte sich um ihre Enkel und schuf einen wunderschönen Garten. Sie schloss sich einer Wandergruppe an, besuchte regelmäßig eine Frauengruppe, kaufte ein Abonnement für das Theater und ging regelmäßig zum Sport.   

Dann erkrankte mein Vater und meine Mutter pflegte ihn 9 Jahre hingebungsvoll. In dieser Zeit ließ sie ihn nur während seines Mittagsschlafs allein. Zum Glück dauerte dieser mindestens zwei Stunden, sodass sie wenigstens in Ruhe einkaufen konnte. Sie verbrachte ihre Tage damit, im Garten zu arbeiten, das Haus instand zu halten und mit meinem Vater Kniffel, Domino und Mensch-ärgere-dich-nicht zu spielen. Unsere Angebote, am Wochenende zu kommen, damit sie sich einmal eine Auszeit gönnen konnte, nahm sie in diesen Jahren nur zweimal an.

Als mein Vater schließlich starb, erklärte sie, dass sie fortan frei von jeder Verantwortung sein wollte. Sie verkaufte Haus und Garten und zog in eine komfortable Mietswohnung mit Balkon und Hausmeister. Da war sie 79.

Kurz darauf buchte sie eine Reise nach Polen und eine Reise nach Tirol. Sie fand eine neue Wandergruppe, belegte einen Yoga-Kurs beim Roten Kreuz und ging wieder regelmäßig ins Theater. Sie freundete sich mit einer Gruppe alleinstehender Frauen an und begann mit diesen in der Stadt zu flanieren. Fortan wuchs ihre Garderobe und sie überraschte uns mit farbenfrohen Blusen und Kleidern, die die gedeckten Töne ihrer jüngeren Jahre vergessen ließen. Sie verbannte ihre praktischen Mützen und kaufte sich einen Hut. Zu Weihnachten wünschte sie sich Make-up und zum Geburtstag ein neues Smartphone.  

Irgendwann fiel der Name Detlef immer häufiger. Sie hatte ihn in der Wandergruppe kennengelernt und er teilte ihre Leidenschaft fürs Fahrradfahren. Mit ihren E-Bikes erkunden die beiden die Umgebung, fuhren locker mal 50 oder 60 Kilometer. Unterwegs kehrten sie ein und genossen ein schönes Stück Torte oder ein Gläschen Wein.

Dann kam die Pandemie. Das Theater schloss, das Wandern in der Gruppe fand ein Ende und auch das Flanieren mit Maske vorm Gesicht machte nicht mehr so richtig Spaß. Wer nun glaubt, dass meine Mutter sich resigniert und ängstlich in die Wohnung zurückzog, der kennt meine Mutter nicht. Montags trifft sie sich nun mit Margot zum Spazierengehen, dienstags ist sie meist mit Inge verabredet, donnerstags macht sie ihre Einkäufe und mittwochs und freitags trifft sie Detlef. Wenn das Wetter es zulässt, machen sie nun unterwegs ein Picknick. Wenn es kalt ist, dann gibt es anschließend ein Stück Kuchen bei meiner Mutter in der Wohnung. Am Wochenende kriegen wir sie endlich mal zu Gesicht.

Ihre Augen glänzen und sie bewegt sich wie ein junges Mädchen. In einigen Wochen wird sie 84 und ich bin stolz auf sie.

Hallo Trina!

„Hallo Trina. Ich habe ja schon ewig nichts mehr von Dir gehört.“

„Ja, ich weiß. Ich hatte einfach zu viel zu tun und bin gar nicht dazu gekommen, mich bei irgendjemanden zu melden.“

„Alles in Ordnung bei Dir?“

„Ja, eigentlich schon. Die letzten Wochen waren einfach nur ziemlich anstrengend.“

„Wieso? Was war los? Erzähl“

„Ach, mein Vater ist gestorben und er hat lange gebraucht, bis er loslassen konnte. Wir waren jeden Tag und oft auch nachts bei ihm, und dann erschien uns sein Tod einfach nur als Erlösung. Ich konnte gar nicht richtig trauern, das kam erst nach und nach. Bei der Beerdigung konnte ich das erste Mal weinen, aber es bewegt sich noch viel in mir.“

„Das kann ich verstehen. Er war schon sehr lange krank, nicht wahr?“

„Ja, und die letzten Monate war er auch nicht mehr ansprechbar. Trotzdem, es hat wehgetan, ihn so zu sehen. Das hat kein Mensch verdient“

„Wie geht es Deiner Mutter damit“

„Im Moment geht es ihr gut. Sie hat ihn ja jahrelang gepflegt und ihr ganzes Leben nach ihm ausgerichtet. Ich glaube, sie fühlt sich jetzt vor allem frei, aber ich habe Angst, dass es sie in ein paar Wochen oder Monaten einholen wird. Immerhin war er 56 Jahre ihr Lebensmittelpunkt.“

„56 Jahre! Wie alt ist sie jetzt?“

„Sie ist 78, aber sie ist sehr fit. Ich hoffe, dass sie nun ein paar schöne Jahre vor sich hat, in denen sie endlich reisen kann und ihr Leben genauso führen kann, wie sie es möchte.“

„Das hat sie sich verdient. So wie ich sie kennen gelernt habe, war sie vor allem für andere da.“

„Das stimmt. Aber jetzt erzähl, wie geht es Dir?“

„Mir? Gut, ich wollte Dich eigentlich fragen, ob Du Lust hast, nächste Woche mit mir zu diesem neuen Laden zu gehen, ……“

Besuch bei Muttern

Ich liebe meine Mutter. Aber manchmal verstehe ich sie nicht.

Schlank sein war für sie immer von besonderer Bedeutung. Noch heute, mit 76 Jahren verkündet sie stolz, dass sie 3 kg abgenommen hat, seit sie die neuen Tabletten nimmt. Dabei trägt sie, solange ich sie kenne, Größe 38.

Über Frauen, die dick sind, redet sie eher abfällig: „… so würde ich mich ja nie gehen lassen“ oder „…. man kann doch ein bisschen auf sich achten….“

Es fällt ihr sofort auf, wenn jemand zugenommen hat. „Nicole hat aber ganz schön zugelegt, mal sehen wie lange Timo das wohl mit ansieht….“.

Schlank sein ist für sie ein Synonym für Erfolg, Attraktivität und Selbstdisziplin

Nun hat sie natürlich ein Problem mit mir. Ihre Tochter ist dick geworden. Zum Vorzeigen nicht mehr geeignet.

Zu Ostern hat sie mir Almased geschenkt.

Kurz vorm Urlaub hat sie mir Fischölkapseln verabreicht. „Ingrid hat schon 7 kg abgenommen, seit sie die nimmt, weil sie dadurch überhaupt keinen Hunger mehr hat“.

Ich spreche nur ungern über mein Gewicht mit ihr. Sie behandelt mich dann, als sei ich schwer krank. „Sprich doch mal mit deinem Arzt, das er dir mal was verschreibt, dass das Wasser aus den Körper treibt.“ „Das ist ja nicht normal bei dir, lass dich doch noch mal gründlich untersuchen…“ Dazu dann ein besorgter und mitleidiger Blick…

Und heute, als ich wieder mal 130 km gefahren bin, um sie zu besuchen, da stellt sie einen noch warmen, frisch gebackenen, herrlich duftenden Pflaumenkuchen mit Bergen von Schlagsahne vor mir hin. „Den isst du doch so gerne…“

Wie bin ich froh, dass ich schon über 50 bin und die Spielchen, Macken und Widersprüchlichkeiten meiner Mutter kenne und mit ihnen im Reinen bin.

Vor 15 Jahren wäre mir sonst heute nämlich der Kragen geplatzt.