Stinkefinger am Morgen

In der Nähe meines Büros gibt es ein altes Hotel, verkommen, mit Müll vor der Tür. Eher eine Absteige. Seit einiger Zeit leben dort Menschen mit, wie man so schön sagt, „südländischem Aussehen“. Einige dieser Menschen sind schon sehr alt. Ich beobachte sie manchmal dabei, wie sie die Mülltonnen nach Pfandflaschen durchsuchen.

Heute morgen kam ich mit meinem Auto um die Ecke gebogen, als einer dieser alten Menschen auf die Straße kam. Als er mich sah, trat er sofort zurück auf den Gehweg. Ich habe angehalten und ihn durchgelassen. Dies führte zu einem Hupkonzert aus dem Audi hinter mir. Der Fahrer versuchte sogar, sich in der engen Kopfsteinpflasterstraße an mich mich vorbei zu quetschen. Gelang ihm nicht. Als ich 10 Sekunden später anfuhr, der Mann mit seinen zwei Plastiktüten hatte inzwischen die Straße überquert, sah ich im Rückspiegel, wie mir Fahrer und Beifahrer, zwei junge Männer in Hemd und Krawatte, den Stinkefinger zeigten.

Die beiden hatten es wohl sehr eilig. Der Weg durch diese engen Gassen ist eine beliebte Abkürzung zu einer der größten Straßen in Hamburg. Trotzdem,  30 Sekunden Zeit müssen sein, um einen anderen Menschen zu zeigen, dass man ihn wahrnimmt und seine Rechte respektiert. Auch im Straßenverkehr. Schließlich war er eher auf der Straße als ich und wo kämen wir wohl hin, wenn nur noch der blanke Egoismus herrscht.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es das Lebensziel dieses alten Mannes mit Plastiktüten voller dreckiger leerer Pfandflaschen war,  in einer versifften Absteige in einer schmutzigen kleinen Seitenstraße einer fremden Großstadt zu leben.

Ob dieses beiden arroganten jungen Kerlen wohl klar ist, dass es reines, pures Glück ist, in einem reichen Land geboren zu werden? Einem Land, das jedem hier geborenen Chancen auf Bildung, Beruf und Aufstieg gibt? Ich hoffe, sie haben mehr Achtung vor ihren Eltern und Großeltern als vor diesem alten Mann und vor der dummen Kuh, die sie wegen dieses Kerls zum Anhalten zwang.

Wie man Sympathien gewinnt – ein Beispiel aus meinem Arbeitsalltag

Seit drei Wochen habe ich zwei neue Mitarbeiterinnen. Die eine, Frau Pelle, ist Sozialarbeiterin, die andere, Frau Mandel,  Psychologin. Beide sind um die 27 Jahre alt und haben ausgezeichnete Zeugnisse. Frau Mandel kann außerdem noch zwei Zusatzqualifikationen vorweisen und beherrscht drei Fremdsprachen fließend.

Frau Mandel hat ein Büro im obersten Stock bekommen, dort, wo alle leitenden Mitarbeiter sitzen. Frau Pelle hat ein Büro im zweiten Stock bekommen und ist von vielen Kolleginnen und Kollegen umgeben.

Die beiden arbeiten in verschiedenen Projekten und ich bin ihre direkte Vorgesetzte.

Frau Mandel hat innerhalb von wenigen Tagen nicht nur mein volles Vertrauen in ihre Fachlichkeit, sondern auch mein Herz gewonnen. Aber nicht nur ich, sondern auch unsere Geschäftsleitung sind von ihr begeistert.

Wie bei allen neuen Mitarbeitern übernehme ich Teil der Einarbeitung selbst und bitte ausdrücklich darum, mit  allen Fragen zur Firmenstruktur, aber auch zu unseren Konzepten und Herangehensweisen zu mir zu kommen. Ich suche die beiden, wie auch die anderen Teammitglieder, regelmäßig in ihren Büros auf, um Fragen oder Probleme rechtzeitig klären zu können.

Frau Mandel  kommt mindestens einmal am Tag kurz in mein Büro. Sie fragt, ob ich Zeit habe und berichtet dann von ihren Erlebnissen mit unseren Klienten, zeigt mir, welche Übungen sie sich überlegt hat und fragt, was ich darüber denke oder was ich ihr empfehle. Manchmal machen wir einfach ein bisschen Smalltalk. Ich weiß mittlerweile, dass sie Motorrad fährt, gern reist und sich vor kurzem von ihrem Freund getrennt hat.

Frau Pelle kommt nie in mein Büro. Wenn ich sie frage, ob ich ihr noch etwas erklären oder zeigen kann, verneint sie dies. Da auch ihr Aufgabenbereich sehr komplex ist und sie erstmals in diesem Bereich arbeitet, habe ich Zweifel, dass sie wirklich schon „sattelfest“ ist. Manchmal, wenn ich in den zweiten Stock komme, sehe ich Frau Pelle bei Kolleginnen sitzen. Offensichtlich klärt sie mit ihnen ihre Fragen. Das ärgert mich, denn seit einigen Monaten schon arbeiten wir (also die Geschäftsleitung und ich) daran, einige Abläufe zu verändern und stoßen dabei auf viel Abwehr im Team.

Frau Mandel hat zu ihrem Einstand einen Kuchen gebacken. Da sie mitbekommen hat, dass nicht nur ich, sondern auch einige  Kollegen keine süßen Sachen essen, hat sie auch einen Obstkorb mitgebracht. Am Geburtstag unserer Sekretärin, die die Tochter unseres Geschäftsführers ist, hat sie ihr Blumen auf den Schreibtisch gestellt.

Frau Pelle ist sehr korrekt. Als ich einen Bericht mit ihr besprach, wies sie mich auf einen Tippfehler hin. Sie bleibt stets sachlich. Sie gibt nichts von sich preis.  Als Mensch bleibt sie mir  fremd.

Frau Mandel hingegen fasziniert mich. Ich bewundere sie sogar ein bisschen. Sie ist nicht nur hochintelligent, sondern verfügt auch über eine hervorragende soziale und emotionale Kompetenz. Sie „fremdelt“ nicht, sondern geht auf jeden im Hause zu, stellt sich vor, erzählt ein bisschen von sich. Sie erkennt sehr schnell, womit sie die Sympathie eines Menschen gewinnen kann. Eine Geburtstagskarte für eine Klientin, eine Mappe mit Trainingsaufgaben für eine Kollegin, ein Gespräch über Motorräder mit unserem EDV-Mann. Sie ist aufmerksam und  geht auf die anderen ein, tut ihnen ungefragt kleine Gefallen, sodass jeder sich von ihr „gesehen“ fühlt. Dabei bleibt sie sehr bescheiden, sie fügt sich nahtlos in ihr Team und kooperiert mit allen.

Innerhalb weniger Tage hat sie die Sympathie nicht nur ihrer Kollegen, sondern auch die unseres Hausmeisters, unserer Sekretärin, unserer Geschäftsleitung und die ihrer Klienten gewonnen. Jeder mag sie, jeder ist freundlich und hilfsbereit zu ihr. Gleichzeitig hat sie Vertrauen in ihre Fähigkeiten geschaffen, indem sie ihre Arbeit transparent macht.

Frau Pelle und Frau Mandel sind nicht die ersten Mitarbeiter, die ich einarbeite. Ich bin sicher, dass Frau Pelle eine sehr gute Mitarbeiterin wird und im Laufe der nächsten Wochen ihre Zurückhaltung verliert.

Ich bin überrascht  über meine Reaktion auf Frau Mandel. Ich entdecke bei mir fast mütterliche Gefühle ihr gegenüber: den Wunsch, sie zu fördern, meine schützende Hand über sie zu halten und ihr mein Wissen weiter zu geben.

Habe ich schon mal erwähnt, dass ich immer auch gern eine Tochter gehabt hätte?

Nun, ich werde sowohl Frau Mandel, als auch meine Reaktion auf sie weiter gut beobachten. Mein Bauchgefühl hat mich bislang selten betrogen, aber im Job muss dieses immer mit einer gehörigen Portion Rationalität gepaart sein.

Schokolade im Büro

Gestern bin ich der Schokoladenschüssel erlegen. Sie stand im leeren Konferenzraum auf dem Tisch. Eine Glasschüssel. In ihr glitzerten und leuchteten die bunten Papierchen einer bekannten Schokoladenpraline. Voll bis zum Rand war sie, die Schüssel.

Ich erblickte sie, als ich auf dem Weg zum Kopierer an der offenen Tür des Konferenzraums vorbeiging. Ignorierte sie.

Ignorierte sie auch auf dem Rückweg zum Büro. Saß wieder am Schreibtisch.  Draußen war es grau und trüb, der Theaterabend mit meiner Mutter drohte. Am Vormittag war ich bei meiner Vorgesetzten gewesen und hatte von meinem Fehler, dem erbosten Kostenträger  und der klagefreudigen Patientin berichtet, Asche auf mein Haupt geschüttet. Erleichterung wollte sich nicht einstellen.  Immer noch grummelte es in mir, dass ich mich bei der Beratung auf die Aussagen der Patientin verlassen und die Berichte nur überflogen hatte. Ein Anfängerfehler!

Egal, die Monatsplanung stand an und musste erledigt werden. Während ich mich mit allen Kräften bemühte,  dieser Aufgabe gerecht  zu werden, begann mein Gehirn mir drohenden Kohlehydratmangel zu signalisieren. Blitzartig erschienen bunte Schokopralinen vor meinem inneren Auge. Ich drängte das Bild beiseite. Mein Gehirn rächte sich mit Leere im Kopf und erhöhter Fehlerquote bei der Aufgabe. „Nur ein einziges winzig kleines Stückchen, 60 Kalorien, und dafür geht es Dir besser“, suggerierte mir mein dickes Ich. Und fand ich mich im Konferenzraum wieder, mit diesem einzigen Stück Schokolade in der Hand.  Schon auf dem Weg im Büro landete es auf meiner Zunge und verströmte sein süßes Gift. Wohlbefinden breitete sich in mir aus.

Mit neuem Schwung ging ich an meine Aufgabe. Doch keine 5 Minuten später stand ich wieder im Konferenzraum. Griff in die Schüssel und füllte mir die Taschen. Kam wieder am Schreibtisch an und schwelgte in Nougat, Praliné und Marzipan.

Schlechtes Gewissen? Nö!!!

9 Tage hatten Vernunft und Selbstdisziplin  die Oberhand, da hab ich mir diesen Ausrutscher wohl verdient, oder?