Ausgesperrt

Das Schlüsselbund fällt klirrend auf die Betontreppe. Ich bücke mich, um es aufzuheben und dabei schießt mir der Schmerz durch den Rücken. Ich fummle mit dem Schlüssel, aber der will nicht ins Schloss passen.

Mist, denke ich. Die haben den Schlüssel drinnen stecken lassen. Ich klingle. Niemand öffnet.

Ich klingle noch mal, diesmal länger, aber wieder scheint keiner mein Klingeln zu bemerken. Von drinnen höre ich Gelächter. Ich erkenne  die Stimme meiner Schwägerin, schrill und hoch dringt sie sogar durch die dicke Eichentür. Sonntagsbraten bei Muttern. Bestimmt gibt es wieder Krustenbraten mit Knödeln und Rotkohl. Wie immer am Sonntag. Ich drücke mit aller Kraft auf die Klingel.

Durch das kleine Fenster in der Tür kann man direkt durch den Flur und die offene Küchentür ins Esszimmer blicken und ich sehe meine Familie am Tisch sitzen.

Typisch, sie reden wieder so laut durcheinander, dass sie nichts mehr mitkriegen. Bestimmt lacht mein Bruder mal wieder über einen der blöden Witze meines Vaters. Die beiden verstehen sich.

Dann muss ich mich anders bemerkbar machen. Ich greife in die Hosentasche, aber da ist kein Handy. Ich fasse in alle Taschen, aber ich muss das Handy zuhause gelassen haben. Shit!

Ich beschließe, um das Haus herumzugehen und an ein Fenster zu klopfen.  Das Esszimmer  und die Küche gehen zum Garten raus.  Die Pforte zum Garten ist verschlossen und mein  Ärger wächst

Der Boden im Vorgarten ist nass und ich bleibe mit der Hose an einem Rosenbusch hängen. Ich fluche. Meine gute Hose, ich  wollte sie morgen noch zur Arbeit anziehen.

Ich klopfe  an die Fensterscheibe zum Wohnzimmer, aber das scheint im Esszimmer niemand zu hören.  Ich  klopfe ein zweites Mal und rufe laut ‚Hallo‘. Wieder bleibt alles still.

Ich  gehe noch einmal zur Haustür. Im Haus ist es nun ruhig. Bestimmt stopfen sie sich jetzt schon den Krustenbraten rein. Mein  Magen knurrt. Eigentlich hasse ich Krustenbraten, aber heute will ich ihn. Ich klopfe mit der Faust an die Haustür und drücke noch einmal mit aller Kraft die Klingel. Aber die Tür bleibt verschlossen. Ich spüre einen Knoten im Magen und mir wird ein bisschen schwindlig. Fast steigen mir Tränen in die Augen. Am liebsten würde ich so lange brüllen, bis jemand aufmacht, aber das ist mir peinlich. Ich drehe mich um und gehe zur Pforte hinaus, die Straße hinunter und mir ist elend zumute. Ich bin ausgesperrt. Obwohl ich einen Schlüssel habe. Dabei hasse ich doch eigentlich Familiensonntage.

Familienbande

Mutter lädt zum 84. Geburtstag ein. Am Sonntag, um 12.30 Uhr, in ein traditionsreiches Gasthaus mit deutscher Küche. Ein Grund zur Freude sollte man denken, oder? Da sie wegen ihrer Schwerhörigkeit nicht mehr so gern telefoniert, bittet sie mich, als älteste Tochter, die Familie zu einzuladen.

„Hatten wir nicht darüber gesprochen, dass eine wir eine Gartenparty feiern?“ Gudrun, meine Schwägerin schaut mich fast vorwurfsvoll an. „Ich hatte mich da schon drauf gefreut, alles ein bisschen lässiger und dann vielleicht reinfeiern von Samstag auf Sonntag.“

Typisch, denke ich, im eigenen Garten fällt es ja auch nicht so auf, wenn du dein Weinglas alle paar Minuten nachfüllst.

„Wir holen sonntags um 09.00 immer frische Brötchen und frühstücken schön zusammen. Da haben wir mittags noch gar keinen Hunger.“ Mein Neffe und seine Frau blicken fast empört auf die Einladungskarte.

Kann es sein, dass die neue Generation so unflexibel ist?

„Deutsche Küche? Womöglich noch Schweinebraten? Und das mitten im Sommer?“ Meine Schwester runzelt die Stirn. „Mutti weiß doch, dass ich vegan lebe, warum macht sie so was?“

„Sicher wird sie an dich denken und selbst  Traditionshäuser sind sie mittlerweile auf vegetarisches Essen eingestellt.“

„Ja, aber vegan ist nicht vegetarisch.“

„Dann bestell dir doch Salat mit Essig und Öl“, entfährt es mir.

„Während ihr so richtig toll esst, soll ich mir was Langweiliges reinziehen. Mutti ist wirklich egoistisch.“

„Das stimmt, eure Mutter ist eine Egoistin“, springt ihr nun mein Schwager zur Seite. „Sie hätte vorher mal alle fragen sollen, worauf sie Lust haben, statt einfach über unsere Köpfe hinweg zu bestimmen.“

„Es ist doch ihr Geburtstag. Sollte sie da nicht entscheiden, wie sie ihn feiern möchte?“

„Ja, aber sie macht es genauso, wie sie es toll findet, und nimmt keine Rücksicht auf uns.“

Wer ist denn hier der Egoist, frage ich mich.

Meine Nichte freut sich. „Toll, so richtig retro, vielleicht noch mit ´nem  Korn hinterher und Schwarzwälder Kirschtorte zum Kaffee. Darf ich Krischi mitbringen?“

Krischi ist ihre neueste Errungenschaft. Immerhin sind die beiden schon vier Wochen zusammen, fast schon ein Rekord. Ich werde Mutti fragen.

Die drei anderen Enkel versprechen ihre Terminkalender zu prüfen, und sich später zu melden. Ich suche Trost bei meinem Mann. Der solidarisiert sich mit meinem Schwager und erklärt mir ausführlich, warum er meine Mutter für eine Person hält, die ihre Familie kontrollieren und an sich binden will, aus purem Egoismus natürlich. Nie würde sie ihn um Rat fragen, sondern immer nur meinen Bruder, der, das wissen alle, keine Ahnung hat. Über den Streit, der nun entbrennt, berichte ich jetzt lieber nicht.

Meine Mutter hat sich wochenlang Gedanken gemacht, wie sie der Sippe etwas Gutes tun kann und sich für das Gartenlokal am See entschieden:  gehobene Küche, nicht zu fein, Kinder und Hunde willkommen. Unzählige Male hat sie mich um Rat gefragt. Ich fühle mich verantwortlich für die Abwehr, die die Einladung hervorruft.

Donnerstagabend fahre ich zu meiner Mutter.

„Und, kommen alle?“ Erwartungsvoll guckt sie mich an.

Zum Glück haben alle drei Enkel zugesagt und sogar gefragt, was sie ihr schenken könnten.

„Alle freuen sich und kommen gern“, entgegne ich. Sie strahlt.

Mutmacher: Meine Mutter oder es ist nie zu spät, das Leben zu genießen

Als meine Mutter in Rente ging, träumte sie davon, in einem Wohnmobil kreuz und quer durch Europa zu reisen. Mein Vater hielt nichts von dieser Idee und so blieb sie zuhause, kümmerte sich um ihre Enkel und schuf einen wunderschönen Garten. Sie schloss sich einer Wandergruppe an, besuchte regelmäßig eine Frauengruppe, kaufte ein Abonnement für das Theater und ging regelmäßig zum Sport.   

Dann erkrankte mein Vater und meine Mutter pflegte ihn 9 Jahre hingebungsvoll. In dieser Zeit ließ sie ihn nur während seines Mittagsschlafs allein. Zum Glück dauerte dieser mindestens zwei Stunden, sodass sie wenigstens in Ruhe einkaufen konnte. Sie verbrachte ihre Tage damit, im Garten zu arbeiten, das Haus instand zu halten und mit meinem Vater Kniffel, Domino und Mensch-ärgere-dich-nicht zu spielen. Unsere Angebote, am Wochenende zu kommen, damit sie sich einmal eine Auszeit gönnen konnte, nahm sie in diesen Jahren nur zweimal an.

Als mein Vater schließlich starb, erklärte sie, dass sie fortan frei von jeder Verantwortung sein wollte. Sie verkaufte Haus und Garten und zog in eine komfortable Mietswohnung mit Balkon und Hausmeister. Da war sie 79.

Kurz darauf buchte sie eine Reise nach Polen und eine Reise nach Tirol. Sie fand eine neue Wandergruppe, belegte einen Yoga-Kurs beim Roten Kreuz und ging wieder regelmäßig ins Theater. Sie freundete sich mit einer Gruppe alleinstehender Frauen an und begann mit diesen in der Stadt zu flanieren. Fortan wuchs ihre Garderobe und sie überraschte uns mit farbenfrohen Blusen und Kleidern, die die gedeckten Töne ihrer jüngeren Jahre vergessen ließen. Sie verbannte ihre praktischen Mützen und kaufte sich einen Hut. Zu Weihnachten wünschte sie sich Make-up und zum Geburtstag ein neues Smartphone.  

Irgendwann fiel der Name Detlef immer häufiger. Sie hatte ihn in der Wandergruppe kennengelernt und er teilte ihre Leidenschaft fürs Fahrradfahren. Mit ihren E-Bikes erkunden die beiden die Umgebung, fuhren locker mal 50 oder 60 Kilometer. Unterwegs kehrten sie ein und genossen ein schönes Stück Torte oder ein Gläschen Wein.

Dann kam die Pandemie. Das Theater schloss, das Wandern in der Gruppe fand ein Ende und auch das Flanieren mit Maske vorm Gesicht machte nicht mehr so richtig Spaß. Wer nun glaubt, dass meine Mutter sich resigniert und ängstlich in die Wohnung zurückzog, der kennt meine Mutter nicht. Montags trifft sie sich nun mit Margot zum Spazierengehen, dienstags ist sie meist mit Inge verabredet, donnerstags macht sie ihre Einkäufe und mittwochs und freitags trifft sie Detlef. Wenn das Wetter es zulässt, machen sie nun unterwegs ein Picknick. Wenn es kalt ist, dann gibt es anschließend ein Stück Kuchen bei meiner Mutter in der Wohnung. Am Wochenende kriegen wir sie endlich mal zu Gesicht.

Ihre Augen glänzen und sie bewegt sich wie ein junges Mädchen. In einigen Wochen wird sie 84 und ich bin stolz auf sie.