Der Brief

„Ich wünschte, ich wäre ihm nie begegnet. Dann würde er noch leben.“

Der Brief war an jemanden namens Anne gerichtet und in einer feminin anmutenden Schrift verfasst. Ich fand ihn in einem Café, wo er unter dem Tisch gelegen hatte. Er war schmutzig, viele Füße waren schon auf ihn getreten.

„Er wird nächsten Mittwoch beerdigt.“ Die nächsten Sätze waren unlesbar, es ging weiter mit „… an diesem Morgen hatte er Eier mit Speck und Wurst. Du weißt ja, wie sehr er ein deftiges Frühstück liebte. Ich habe ihm immer das Essen bereitet, das er liebte, obwohl ich mich dabei hasste.

An diesem Morgen fühlte ich mich genervt und wütend und knallte ihm den Teller hin mit der Bemerkung, dass dieses Zeug ihn eines Tages töten würde. Er meinte nur, ich solle den Mund halten und versteckte sich hinter seiner Zeitung. Ich stand hinter ihm und dachte, wie gut es tun würde, diesen Kopf mit seinen hässlichen braunen Flecken und grauem Flaum einzuschlagen. Ich seufzte und in diesem Moment fiel er vorüber. Sein Gesicht landete auf dem Teller und Eigelb und Fett spritzten auf den Tisch. Er lief blau an und ich wusste, dass ich den Krankenwagen rufen und mit einer Herzmassage beginnen sollte. Aber ich stand da wie gelähmt, und als der Arzt dann endlich kam, war er tot.

Es war ein Herzinfarkt und der Arzt meinte, bei dem Gewicht und seinen Ernährungsgewohnheiten war das zu erwarten gewesen. Was der Arzt nicht wusste, war, dass ich ihn schon fast ein Jahr morgens nicht mehr an seine Tabletten erinnert hatte.

Der Brief endete mit den Worten „… du warst fast 35 Jahre mit ihm verheiratet und hast dich immer gut um ihn gekümmert. Ich habe mich fast jeden Tag gefragt, wie du es mit ihm ausgehalten hast und ihn dabei auch noch lieben konntest. Es war ein Fehler, ihn dir wegzunehmen. Mein Traum, einen reichen Mann zu heiraten, hat sich als Alptraum erwiesen.“

Der Brief hatte keine Unterschrift.

Ich rief die Bedienung und fragte sie, ob sie sich daran erinnerte, wer hier in den letzten Stunden gesessen hatte. „Heute war viel los, aber da war ein junger Mann, der etwas schrieb und ständig das Papier zusammenknüllte. Ich erinnere mich an ihn, weil er so schrecklich elend aussah.“

Auf dem Weg zum Auto fragte ich mich, ob ich die Polizei rufen sollte. Aber ist es Mord, jemanden etwas zu kochen, das nicht gut für ihn ist? Und wessen Verantwortung ist es, ob ich meine Medikamente nehme? Ich stieg ein, ließ den Motor an und hörte den Radiomoderator mit hektischer Stimme berichten, dass Peter Klose, der steinreiche Gründer der P. K. AG und Mäzen der Stadt am Mittwoch beerdigt würde. Man erwartete rund 500 Gäste zur Beerdigung. Peter Klose, so berichtete der Moderator, hatte Schlagzeilen gemacht, als er im Alter von 62 Jahren seine Ehefrau verließ und einen dreiundzwanzigjährigen Medizinstudenten heiratete. Peter Klose, so der Sprecher, hinterließ keine Kinder und man vermutete, dass er sein gesamtes Vermögen der Herzstiftung vermacht hatte.

Zuhause angekommen, nahm ich ein Feuerzeug und verbrannte den Brief.

Gibt es ein Problem?

„Wenn du ein Problem hast, versuche es zu lösen. Kannst du es nicht lösen, dann mache kein Problem daraus.“ (Buddha)

Als ich diesen Spruch von Buddha fand, ließ er mir keine Ruhe. Zuerst fand ich ihn einleuchtend und hätte gern was Kluges drüber geschrieben, aber als ich anfing drüber nachzudenken, konnte ich keine Worte finden.

„Was ist denn eigentlich ein Problem?“, fragte ich mich, „wie definiert man das?“ Ich googelte die Definition von Problem und fand heraus, dass ein Problem

  1. Ausgangslage besteht, die nicht unseren Wünschen oder Vorstellungen entspricht, oder aus einer Frage, für die uns eine Antwort fehlt.
  2. Wir wissen, wie Situation unseren Wünschen oder Vorstellungen entsprechen würde, aber
  3. uns fehlen die Mittel oder Möglichkeiten, um die Situation entsprechend zu verändern.

Nachdem ich nun wusste, wie man Problem definiert, suchte ich ein Beispiel  aus meinem Leben, auf den dieser Spruch zutreffen könnte. Dabei kam mir in den Sinn, dass es mein Übergewicht ist, das mich vor 2 Jahren dazu geführt hatte, einen Blog zu schreiben. Ich wollte mich durch einen Blog zum Durchhalten meiner Ernährungspläne motivieren

Es fiel mir überhaupt nicht schwer, mir Strategien zu überlegen, mit denen ich abnehmen könnte. Im Gegenteil, ich war (und bin) geradezu ein Experte über die Inhalte und Nährwerte unserer Lebensmittel, weiß über Ballaststoffe, gesättigte, ungesättigte und einfach gesättigte Fettsäuren bestens Bescheid, ebenso über den glykämischen Index von Nahrungsmitteln und kenne die Konzepte vieler Ernährungsphilosophien.

Ich entschied mich für eine fettarme Ernährung mit viel Gemüse und wenig Fleisch, wollte alle zuckerhaltigen Produkte meiden und mich mehr bewegen. An manchen Tagen gelang es mir tatsächlich mich so zu ernähren, aber an den anderen Tagen aß ich dafür umso mehr. Kaum hatte ich 500 g abgenommen, hatte ich sie wieder drauf. Zeitweilig hatte ich sogar 3 kg mehr als zu Beginn meines Abnehmplans.

Was also hat mich davon abgehalten, so zu essen, dass ich nach und nach abnehme?

Es war die Psyche. Sie hat sich gewehrt. Essen diente für mich nicht nur der Nahrungsaufnahme, sondern war mein Tröster, mein Verbündeter, mein treuer Freund, mein Beschützer. Mit Essen konnte ich meine Gefühle abwehren, ich konnte mit Essen einen Erfolg feiern oder mich über einen Misserfolg hinwegtrösten. Ich gönnte mir ein extra teures und extra kalorienreiches Eis zur Belohnung und wenn ich mich einsam fühlte, dann half eine große Tafel Schokolade mit Nüssen. Aber auch Freunde und Familie wurden reichhaltig bekocht, denn Essen war für mich ein Mittel, Zuneigung und Liebe auszudrücken.

Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich begriff, dass nicht das Essen, sondern mein eigener Umgang mit mir selbst mein Problem, das Übergewicht, verursacht hatte. Als ich das erkannte, hörte ich auf, das Problem ‚Übergewicht‘ lösen zu wollen. Ich ernährte mich weiterhin so gesund wie möglich, aber ich machte mir keine Ernährungspläne mehr und mied die Waage.

Ich hörte auf, ein Problem aus meinem Gewicht zu machen. Mich wegen jedem Eis, das ich aß, zu schämen. Ständig mit schlechtem Gewissen herumzulaufen, weil ich wieder mal zu viel gegessen hatte. Mir nur noch farblose Kleidung zu kaufen, in der ich mich verstecken konnte.

Es gab etwas in mir, das noch nicht bereit ist, das Problem ‚Übergewicht‘ zu lösen. Als ich das erkannte, begann ich,achtsamer mit mir umzugehen. Seither übe ich, gut zu mir zu sein, mich liebevoll zu betrachten, nachsichtig und geduldig mit meinen Schwächen umzugehen und meine Stärken zu leben.

Ich habe im letzten Jahr  8 Kilo abgenommen. Das ist nicht viel, aber es ist deutlich mehr als in dem Jahr, als mein Denken vor allem ums Abnehmen kreiste. In dem Jahr verlor ich grade mal 1 Kilo.

Seit einigen Monaten hat sich mein Essverhalten geändert. Immer öfter reichen mir  3 Mahlzeiten am Tag und das Bedürfnis nach dem Naschen zwischendurch wird immer seltener. Ich will mich abends nicht mehr vollzustopfen bis ich so schwer bin, dass ich nicht mehr vom Sofa hoch komme, denn schließlich will ich noch was vom Abend haben.

Es ist mir damals nicht gelungen, mein Problem ‚Übergewicht‘ in den Griff zu kriegen. Meine Willenskraft und Selbstdisziplin reichten nicht aus. Ich wollte abnehmen, aber gleichzeitig weiter essen wie zuvor.

Das, was ich als Problem definiert hatte, war gar nicht das eigentliche Problem. Darunter lag noch ein Problem, das viel schwer-wiegender war. Erst seit ich mich mit diesen Problemen aktiv auseinandersetzten, klappt es auch mit dem Abnehmen.

 

 

 

 

 

 

Wendepunkt

Als mein Arzt mir sagte, ich hätte Diabetes, wollte ich es ihm nicht glauben.

Klar, ich bin übergewichtig, aber doch erst seit ein paar Jahren. Ich ernähre mich falsch??? Nein, ich esse viele gesunde Sachen und achte auf fettarme Ernährung. Nur hin und wieder entgleist mein Verstand und dann habe ich eine Phase, in der ich zu viele Süßigkeiten esse. Aber sonst? Sonst bin ich wirklich sehr ernährungsbewusst.

Sicher, ich bewege mich nicht genug. Das weiß ich selbst, aber so schlimm, wie bei vielen anderen ist es bei mir nicht. Schließlich habe ich einen Hund und gehe jeden Tag mindestens zweimal mit ihr Gassi. Am Wochenende machen wir sogar ausgedehnte Spaziergänge, soweit meine kaputte Hüfte das zulässt. Und früher habe ich auch immer viel Sport gemacht. Und Yoga. Und wenn ich rechtzeitig aus dem Bett komme, mache ich auch heute noch ein, zwei Yogaübungen vor der Arbeit. Für die Beweglichkeit. Und die Übungen, die mir meine Physiotherapeutin zeigt, mache ich auch mindestens ein, zweimal die Woche, wenn ich rechtzeitig von der Arbeit komme.

Ok, meine Zuckerwerte sind zu hoch. Ja, kann sein, aber die wurden ja auch grade nach einer Phase intensiven Feierns, Grillens und Ausgehens gemessen. Und außerdem hat mein Arzt nicht beachtet, dass ich abends spät und dann auch viel esse und deshalb morgens natürlich höhere Blutzuckerwerte habe. Außerdem sind die Werte nur geringfügig über den Normalwert, dann kann das doch alles nicht so schlimm sein, oder?

Also, alles nicht so schlimm und alles bald wieder in Ordnung. Ein paar Wochen ohne Süßigkeiten und Rotwein, mit etwas längeren Spaziergängen und alles ist wieder gut. Außerdem weiß jeder, dass Stress den Blutzuckerwert erhöht, und bei dem Stress, den ich in den letzten Wochen auf der Arbeit hatte, ist es nicht verwunderlich, dass meine Werte „spinnen“.

So habe ich gedacht. Bis vor ein paar Tagen.

Der Wendepunkt:

Vor ein knapp zwei Wochen  habe ich eine medizinische Reha begonnen, auch Kur genannt. In einer netten Klinik in der Mitte von Nirgendwo. Nicht wegen der Diabetes, sondern wegen der Arthrose. Habe auch dort den Ärzten erklärt, dass es nur an der Dummheit  Übergenauigkeit meines Hausarztes liegt, dass er mir Metformin verschrieben hat, dass ich mich aber nicht als Diabetikerin bezeichnen würde. Die Ärztin, die mich untersuchte, lächelte, und steckte mich ins Diabetikerprogramm.

Ja, und da bin ich nun, und habe schon etliche Vorträge, eine Ernährungsberatung und viele Blutzuckermessungen hinter mir. Und ich begreife  langsam, dass ich tatsächlich Diabetikerin bin. Typ II, eine von denen mit der Insulinintoleranz. Erblich bedingt, denn meine Mutter, ihre Schwestern und Brüder haben es auch. Ich hätte es durch einen gesünderen Lebensstil hinauszögern, aber wahrscheinlich nicht verhindern können.

Ich habe Glück und muss zunächst nur Tabletten nehmen, Metformin, die mir mein Arzt ja schon im August verschrieben hatte und die ich damals nicht nehmen wollte. Jetzt nehme ich sie, aber das reicht nicht, um die Krankheit langfristig in den Griff zu bekommen. Eine Ernährungsumstellung ist angesagt.  Einfache Kohlenhydrate, wie sie in zuckerhaltigen Produkten vorkommen meiden. Das war mir schon klar. Aber das damit auch mein geliebtes Obst gemeint ist,  war mir nicht klar. Obst enthält viel Fruchtzucker und  2 Stückt am Tag sind genug. Wenig tierisches Fett, die Nackenkotelettes vom Grill sollten künftig eine Ausnahme bleiben. Das schockt jetzt im Winter nicht ganz so, denn bis zur Grillsaison vergehen noch einige Monate.

Auf Rotwein sollte ich künftig ebenso verzichten, bestenfalls ein kleines Gläschen ist erlaubt.  Das finde ich wirklich schade, denn grade am Freitagabend, zum Einklingen aufs Wochenende habe ich gern eine gute Flasche mit meinem Liebsten geteilt. Aber Alkohol bringt den Blutzucker komplett durcheinander und verträgt sich auch nicht wirklich mit Metformin.

Jetzt weiß ich auch, dass  die Blutzuckerwerte morgens auch hoch sein können , wenn man abends wenig gegessen hat. Meine letzte Blutzuckermessung hat mir das unmissverständlich klar gemacht und damit mein Argument,dass meine hohen Blutzuckerwerte nur ein Ergebnis meines Lebensstils und nicht Diabetes sind, entkräftigt. 

Dann musste ich noch erfahren, dass meine Spaziergänge mit dem Hund zwar gut sind, aber nicht als Sport zählen. Sport ist, wenn man auch mal ins Schwitzen kommt. Dabei schwitze ich oft schon, ohne Sport zu machen, schließlich bin ich in den  Wechseljahren, aber das zählt nicht. Bewegung und  körperliche Anstrengung sind ein Muss.  Natürlich sollte ich abnehmen.Je mehr, desto besser,  denn Übergewicht begünstigt eine Insulinintoleranz.

Nach der Reha gibt es Reha-Sport und ein DesesaseManagement-Programm und dann ab ins Fitnessstudio! Meinen Arzt sehe ich künftig auch öfter, alles drei Monate nämlich, zur Kontrolle.

Eigentlich schön, dass unser Gesundheitssystem sich so um mich sorgt, aber so ganz wohl ist mir nicht bei dem Gedanken, dass mein Arzt künftig an meinen Blutwerten sehen kann, ob ich denn auch wirklich gesundheitsbewusst lebe. Andererseits kann Diabetes, auch in einem so leichten, oder früher Stadium wie bei mir, gefährliche Schäden hervorrufen, und das muss ja nicht sein.

Hier in der Reha ist es sehr einfach, diesen Regeln entsprechend zu leben. Das Essen ist lecker, aber fettarm und die Blöße, mir Nachschlag zu holen, wo ich doch das rote Pünktchen für Diabetiker auf meinem Tischkärtchen habe und die Diätassistentinnen während der Mahlzeiten im Speisesaal herum marschieren, mag ich mir nicht geben. Ich mache jeden Tag Sport, habe Physiotherapie und schöne Anwendungen mit Wärme, kann schwimmen und in die Sauna gehen, spazieren gehen in der freien Zeit und dabei mit Neid auf all die Kurgäste schauen, die sich in den vielen Cafés ein Stück Torte gönnen.

Ach, irgendwie bin ich immer noch wütend, dass es mich getroffen hat!!!!!  Diese ganze Beschäftigung mit gesunder Ernährung und was esse ich wann und wie, das nervt mich schon gewaltig. Aber irgendwann mal Insulin spritzen zu müssen, finde ich auch nicht so prickelnd, also werde ich  eine brave Patientin sein und tun, was die Experten mir nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen raten.

Trotzdem, ich will kein Insulin spritzen und werde ab jetzt noch intensiver nach den schönen Dingen im Leben suchen, die nichts mit Essen zu tun haben. Und diese werde ich auskosten und genießen! Das Leben ist schön, auch mit Diabetes!