Momentaufnahme: Begegnung am Silvestermorgen

Am Silvestermorgen bog ich noch ganz verschlafen mit meinem Hund um die Ecke und wäre fast in die ältere Dame, die im Häuserblock hinter unserem Garten wohnt, geprallt. Artig grüßte ich sie und wünschte ihr einen guten Rutsch.  

Schnell wollte ich weitergehen, als sie mich mit der Frage, wie es meinem Mann ginge, stoppte.

„Etwas besser“, antwortete ich, “er kann jetzt mit seinen Krücken schon kleinere Strecken zurücklegen und wir rechnen damit, dass er im Laufe des nächsten Jahres fast vollständig gesund wird.“

„Mein Mann hat einen Rollator“, erzählte sie mir und stellte ihre Einkaufstaschen auf den Boden. „Gegen den hat er sich lange gewehrt. Jetzt ist er froh darüber, wieder aus dem Haus zu können“. Dann berichtete sie mir, wie ihr Mann nach einem Zeckenbiss plötzlich seine Füße nicht mehr spüren konnte und sein Gang im unsicherer wurde. Es dauerte fast zwei Jahre, bis feststand, dass ein Zeckenbiss Auslöser war. Kurz darauf erlitt er einen leichten Schlaganfall und aus einem zupackenden, immer beschäftigten  Handwerker wurde ein Mann, der das Haus kaum verlässt und bei fast allem auf Hilfe angewiesen ist.

„Wissen Sie“, raunte sie mir zu, „meine Tochter wohnt nicht weit weg. Und manchmal, während sie arbeitet, gehe ich für ein paar Stunden in ihre Wohnung. Die Ruhe! Kein Fernsehen, kein Radio, keiner, der mich ruft. Kranke Menschen verändern sich.“  

Gern hätte ich ihr etwas Kluges, Mut machendes gesagt, aber mir fiel nichts Besseres ein als ihr zu sagen, dass dies bestimmt nicht leicht für sie sei und ich ihre Geduld bewundere. Sie entgegnete, dass sie seit 45 Jahren verheiratet sei und sie und ihr Mann ja viele schöne gemeinsame Jahre gehabt hätten. Man müsse das Leben eben nehmen, wie es komme.

Dann wünschte sie mir ein gutes neues Jahr und bat mich, meinem Mann Grüße auszurichten. Ich versprach das zu tun und schämte mich ein wenig. Ich hatte sie immer für eine missmutige alte Frau gehalten, die kaum mal grüßte und eigentlich hatte ich auch gar keine Lust gehabt, mit ihr zu reden. Jetzt sah ich sie in einem anderen Licht und nahm mir vor, im nächsten Jahr achtsamer mit meinen Nachbarn umzugehen.

Rudi

Als wir vor 10 Jahren hierher zogen, fiel mir sein Haus auf. Es war das einzige Grundstück in der Nachbarschaft ohne die obligatorische Tanne, das akkurat geschnittene Blumenbeet und den kurz geschorenen Rasen im Vorgarten.

Ein Boot stand neben dem Haus, ebenso einige Stapel mit Holz und eine alte Zinkbadewanne. Das Gras war hoch, Blumen wuchsen ohne einem Beet zugehörig zu sein, Apfel- und Kirschbäume standen auf dem Grundstück.

Als leicht alternativ angehauchte Großstädterin mit Sympathien für Bauwagenbewohner hoffte ich auf eine unkonventionelle und jedem Spießbürgertum abgeneigte Seele zu treffen.

Ich machte seine Bekanntschaft beim Gassigehen mit dem Hund. Im Herbst, im Halbdunkel. Sein Hund und meine Hündin mochten sich und so schlossen wir Bekanntschaft.

Heute ist Rudi fester Bestandteil unseres Alltags: er verkauft Wild, das er auf dubiosem Wege bekommt, er verschachert Holz für den Kamin und jeden Dienstag bietet er uns Obst und Gemüse an, das er auf dem Wochenmarkt billig ergattert. Meist handelt es sich um Ware kurz vor dem Verfall. Seit ich ihm einmal Wild und Obst abgekauft habe und mein Lebensgefährte ihm bei Lieferung ein Bier anbot, hat er uns in sein Herz geschlossen.

Ihm entgeht nichts. Er ist bestens darüber informiert, wann ich komme, wann ich gehe und an welchen Tagen ich später als sonst nach Hause komme. Er weiß, wann wir Besuch hatten und wann wir einen Tag nicht zuhause waren. Sowie es warm wird, erscheint er mindestens einmal am Tag am Gartenzaun, um zu schauen, was mein Lebensgefährte in der Garage treibt.

Wenn ich ihm abends auf der Hunderoute begegne, dann fragt er mich, wo ich denn gewesen sei oder was mein Partner denn mit diesem alten Auto wolle. Gern erzählt er, was er sich abends kocht und wie er sein Wild zubereitet, ganz ausführlich. Gibt es darüber  nichts zu berichten, ereifert er sich über die Schlechtigkeit der Welt. Über den Bürgermeister, der meint, er sei was Besseres, über die Radioprogramme, die immer diesen „englischen Sch… „ spielen, wo es doch so schöne deutsche Schlager gibt, über die Politiker, die „unser“ Geld verschwenden und über die Idioten, die unsere Anliegerstraße als Abkürzung nehmen.

Bauwagenbewohner findet er übrigens ganz schlimm, die sollte man alle einsperren.

Ich weiß wenig über ihn. Er lässt keine Fragen zu. Fragt selbst und redet bevor man selbst den Mund aufkriegt. Von Nachbarn weiß ich, dass er schon immer hier lebt, das Häuschen von seiner Mutter – eine anständige Frau – geerbt hat und seine Frau ihn schon vor langer Zeit verlassen hat.

Im Tageslicht sehe ich die schwarzen Schmutzränder in den Halsfalten, die Hundehaare auf der Kleidung und die langen Fingernägel. Ich rieche die Küchendünste in seinen Kleidern und die Bierfahne.

Ich schätze Rudi trotzdem: im letzten Herbst, als mein Lebensgefährte in seiner Heimat weilte, knickte der Sturm eine Tanne um. Als ich abends nach Haus kam, lag der Baum in kleine Stücke zersägt auf dem Rasen. „Siehst du“, sagte Rudi beim Hundespaziergang, „jetzt hast Du wieder Brennholz.“

So ist er, der Rudi.

Nachbarschaft

Erstaunlicherweise trifft man seine Nachbarn auf dem Lande noch seltener als in der Stadt, wenn man wie ich tagsüber nicht zu Hause ist.

Zur Straße hin liegen die Vorgärten, die eben nur zur Zierde da sind. Das eigentliche Leben spielt sich hinter dem Haus ab, wo Terrasse und Gemüsegarten liegen, alles sorgfältig verborgen hinter Büschen, Hecken und Schuppen.

So treffe ich meine Nachbarn meist nur beim Straßenfegen am Samstag. Das ist eine sehr wichtige und ernst zu nehmende Angelegenheit. Hält man seinen Gehweg nämlich nicht sauber und die Rinnsteine nicht frei von Wildkräutern, dann dauert es nicht lange, bis ein Brief von der Gemeinde ins Haus flattert mit der Aufforderung, diesen Missstand sofort zu beseitigen. Oder unser Gemeindevorsteher macht ein Foto und veröffentlicht es auf seiner Homepage mit dem Hinweis, dass es unglücklicherweise Bürger gibt, die ihre Pflichten nicht ernst nehmen usw. usw. Dazu packt er dann noch ein Foto von einem vorbildlichen Bürger, der seinen Gehweg grade andächtig reinigt.

Ihr könnt euch sicherlich denken, dass auch ich zu den Menschen gehöre, die die Gemeindekasse mit einem nach der 2. Mahnung gezahlten Bußgeld in Höhe von 50 Euro gefüllt haben. Nicht, weil es mir egal ist, wie es vor meinem Haus aussieht, sondern einfach deshalb, weil ich gar nicht auf den Gedanken gekommen war, dass es zur Aufgabe der Hausbesitzer gehört, auch den Rinnstein sauber zu halten. Schließlich ist unser Haus ein Eckgrundstück und dreißig Meter Gehweg liegen direkt an der Hauptstraße und da ist ganz schön viel Verkehr. Ich ging einfach davon aus, dass so was wie in der Großstadt von der Stadtreinigung übernommen wird.

Seit einigen Jahren also gehört es zu meinen Samstagsbeschäftigungen, den Gehweg und den Rinnstein in ordnungsgemäßen Zustand zu halten.

Mein Nachbar nebenan erledigt diese Aufgabe meist schon zu einer Stunde, in der ich mich noch meinen Träumen hingebe. Er mag unseren Hund nicht, der zu der Rasse der  Gartenzaun-Kläffer gehört, deshalb bleibt es hier bestenfalls bei einem Winken und ‚Guten Morgen’.

Unser Nachbar im übernächsten Haus hingegen ist ein freundlicher Mensch, der gern mit seinem Terrier vorbei kommt, während ich mit Schaufel und Besen hantiere. Er ist die lebende Zeitung des Ortes und informiert mich zuverlässig darüber, was die Jugendlichen in der letzten Nacht angestellt haben (vor der Schule rumgelungert und mit Flaschen geschmissen) und was sonst noch in der Nachbarschaft passiert. Auf der anderen Straßenseite unseres Grundstücks liegen noch vier typische kleine Siedlerhäuser, aber es gibt nur eine unbefestigte Straße daran vorbei und keine Gehwege, die man reinigen könnte.

Diesen Nachbarn winke ich zu, wenn wir uns zufällig begegnen, aber ich kenne weder ihren Namen noch weiß ich etwas über sie. Auf dem Lande erledigt man nämlich fast alles mit dem Auto und mit diesem fährt man direkt auf seine Auffahrt und kommt so gar nicht weiter in Kontakt mit seinen Nachbarn.

In der Großstadt kannte ich meine Nachbarn besser. Über mir wohnte ein italienisches Ehepaar, das sich gern lauthals stritt. Die Küchen- und Schlafzimmerfenster lagen alle zum Innenhof, sodass ihre Argumente nicht zu überhören waren. Unter mir lebte ein schwules Pärchen.  Die beiden hatten ein sehr spannendes Liebesleben, eines Nachts wurde ich wach, weil einer der beiden ständig „Muh, Muh“ brüllte. Bis heute rätsle ich, was die da wohl getrieben haben. Dann gab es noch eine junge Frau in dem Haus, Ramona, deren Beziehungen nie länger als 6 Monate hielten. Sie war total nett und ich verstehe bis heute nicht, warum das die Kerle nicht auch gemerkt haben. Das jugoslawische Ehepaar im Haus hatte Probleme mit ihrer pubertierenden Tochter, die gern Miniröcke und Piercings trug und schließlich in eine Jugendwohngruppe zog. Die ruhige  Architekturstudentin ganz oben im Haus hatte Probleme mit dem Studium. Neben uns lebte ein steinalter Mann und es dauerte keine drei Tage, bis wir merkten, dass er verstorben war, weil wir ihn durch die dünnen Wände nicht mehr hören konnten.

Manchmal vermisse ich es, meine Nachbarn so hautnah zu spüren. Spätesten um 20.00 Uhr im Sommer und um 16.00 Uhr im Winter wird es ganz still bei uns im Ort. Dann gehen die Jalousien runter und man sieht in vielen Häusern nicht einmal mehr das Licht aus den Fenstern scheinen. Die Straßenbeleuchtung ist gedimmt, um Energie zu sparen und auf meiner Abendrunde mit dem Hund ist es still. Dann fühle ich mich manchmal ein bisschen vom Leben abgeschnitten. Aber, und davon erzähle ich ein anderes Mal, es gibt auch hier im Ort skurrile Typen.