Sonntagsgedanken

„Nicht der Wind, sondern das Segel bestimmt die Richtung“ (Weisheit aus China)

Wenn der Wind zum Sturm wird, muss ich die Segel so setzen, dass sie mich vorm Kentern bewahren, egal, in welche Richtung ich dadurch gezwungen werde. Wenn der Sturm vorüber ist, werde ich wissen, wohin er mich getrieben hat. Dann kann ich die Segel wieder in die von mir gewünschte Richtung ausrichten

„Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen“ (Konfuzius)

Ich kann mich entscheiden, mich auf das einzustellen, was ist, statt erzwingen zu wollen, was nicht in meinen Händen liegt.

Manchmal ist der Wind unberechenbar, kommt in Böen, denen ich kaum was entgegen zu setzen habe. Das macht mir Angst und erinnert daran, dass ich nicht alles kontrollieren kann. Ich tröste mich damit, dass bislang jeder Sturm vorbei gezogen ist und ich danach windstille Zeiten und milde Brisen genießen konnte.

Liebe Martina (4)

Liebe Martina,

ich hatte Dir ja im letzten Brief erzählt, dass ich wegen diesem Leberfleck irrationale Angst bzw. geradezu Panik hatte, meine Gedanken immer wieder um die Frage kreiste, was ist, wenn….Ich traute mich nicht mal Pläne für die nächsten Wochen zu machen, weil ich mich schon im Krankenhaus und dahinsiechend sah.   Als ganz junge Frau hatte ich auch schon mal solche eine Phase. Damals hatte ich riesige Angst, Lymphdrüsenkrebs zu haben. Ein Schulkamerad von mir war daran erkrankt, und ich habe damals ständig alle Lymphknoten abgetastet und sie kamen mir immer zu groß vor. Außerdem hatte ich immer einen Kloß im Hals und Angst, zu ersticken. Ich war ständig beim Arzt, der natürlich nie was finden konnte. Damals, in den 70iger Jahren, war Psychosomatik noch kein so bekannter Begriff, mein Hausarzt verschrieb mir irgendwann Beruhigungsmittel, ich machte Abitur, zog aus der Kleinstadt heraus und vergaß diese Episode in meinem Leben.

Vor kurzem hatten wir eine Patientin mit einer Angststörung, die sich auf Krankheiten bezog. Sie litt an schwerer Hypochondrie. Ständig erlitt sie Schwindelattacken, hatte Herzrasen, einen Kloß im Hals, Schmerzen am ganzen Körper. Immer wieder neue Symptome. Mindestens zweimal im Monat rief sie den Notarzt, weil sie Angst hatte, einen Herzinfarkt zu erleiden. In der einen Woche suchte sie vier verschiedene Ärzte auf: Allgemeinmediziner, Internist, HNO-Arzt, Urologe. Wenn ein Arzt nichts fand, suchte sie einen neuen auf. Wir haben diesen Fall bei unserer Supervision vorgestellt. Ergebnis in Kurzform: Ängste vor Krankheiten dienen häufig dazu, eine überwältigende Angst vor der Auflösung abzuwehren. Angst ist leichter zu bewältigen, wenn sie sich auf etwas richtet, z. B. Angst vor einer Krankheit, als wenn einfach nur Angst da ist, die sich auf nichts oder auf die Auflösung des Selbst richtet.  Logisch, nicht wahr? Wenn ich Angst vor Krankheiten habe, kann ich mich informieren, kann ich zum Arzt gehen, Medikamente nehmen, werde Patient, werde versorgt, kann mich entlasten. Da aber nicht die vermeintliche Krankheit das Problem ist, sondern eine unbestimmte Angst für die es im Hier und Jetzt keine Gründe gibt, hilft es der Betroffenen nicht, wenn der Arzt ihr bescheinigt, kerngesund zu sein. Entweder findet sie Gründe, warum der Arzt sich getäuscht hat und  sie sucht weitere Ärzte auf oder sie entwickelt neue Symptome.

In so einem Fall wünscht man sich die elektronische Gesundheitsakte, denn jeder Arzt, den sie aufsucht, fängt wieder bei Null an, macht aufwändige Untersuchungen und kann doch nicht helfen.

Ähnlich ist es auch mit Zwängen. Durch Zwangshandlungen oder Zwangsgedanken („Was, wenn ich jemanden im Schlaf töte ohne es zu merken“) werden ebenfalls Ängste abgewehrt. Hier, so unser Supervisor, allerdings häufiger Ängste, die aufgrund von Autonomiekonflikten entstehen, also einerseits der Wunsch nach Nähe/Verschmelzung und andererseits der Wunsch nach Abgrenzung und Autonomie, wie er bei der Ablösung von den Eltern entsteht. Anders als die Hypochonder verheimlichen diese Menschen ihre Symptome. Sie stehen um vier auf, um ihre Rituale machen zu können. Wir hatten mal eine Patientin, die ist jeden Morgen um 04.00 Uhr aufgestanden, um ihre Rituale ausführen zu können. Diese bestanden aus Waschzwängen, Zählzwängen und dem Drang, sich vor Verlassen des Hauses bis zu zwanzig Mal zu vergewissern, dass alle Elektrogeräte ausgeschaltet, die Fenster verschlossen und die Wasserhähne zu waren. Es gelang ihr aber immer, pünktlich auf der Arbeit bzw. bei uns zu erscheinen, aber die arme Frau war natürlich fürchterlich müde und überfordert. Die Zwänge haben ihr Leben total bestimmt und auf der Arbeit kam sie auch nicht zurecht, weil sie sehr perfektionistisch war, hohe Ansprüche an sich hatte und so jeden Arbeitsschritt dreimal kontrollierte, um sicher zu sein, dass alles perfekt ist. Das war es dann auch, aber sie brauchte dreimal so lange für jeden Arbeitsschritt wie die anderen, was zu Konflikten am Arbeitsplatz führte, die schließlich in ihrem kompletten Zusammenbruch endeten. Eigentlich aber gut für sie, weil sie nun endlich Hilfe erhielt.

Die Leute, die „nur“ Zwangsgedanken haben, schämen sich oft, weil diese oftmals so furchtbar aggressiv oder gewalttätig erscheinen („was, wenn ich mein Baby aus dem Fenster fallen lasse“, „was, wenn ich den Radfahrer vorhin umgestoßen habe“). Der Betreffende hat natürlich nicht die Absicht, Radfahrer oder sein Baby zu verletzen, im Gegenteil!  Aber es besteht ein innerer Konflikt, der sich durch die Gedanken, die sich einfach aufdrängen, äußert. Und natürlich kommen zu dem inneren Konflikt noch genetische Faktoren, umweltbedingte Faktoren usw. zusammen. Aber es ist schon fies, was es alles so an Erkrankungen gibt, die einem das Leben vergällen können.

Das ist natürlich alles reichlich kurz und platt beschrieben und jeder Patient hat seine ganz eigene Variante dieser Angststörungen. Aber mir ist bei der Supervision schlagartig klar geworden, dass auch ich ziemlich kurz davor war, als junges Mädchen eine Angststörung zu entwickeln.

Du kennst mich ja, Martina, ich gehöre ohnehin zu den ängstlicheren Zeitgenossen. Ich fliege nur ungern, mag mich keiner Achterbahn ausliefern und steuere das Auto am liebsten selbst. Ich gehe immer gleich vom Schlimmsten aus und entwickle viel Phantasie, wenn ich mir Katastrophenbilder ausmale. Zum Glück habe ich gelernt, damit umzugehen. Einen inneren Dialog zu führen, in dem ich wie eine Mutter mit mir spreche. Meine Angst annehme, statt sie wegzudrücken, mir dann aber  Mut mache, Fakten aufzähle und mich selbst an die Hand nehme, um trotz Ängste, das zu tun, was anliegt. Beim Fliegen denke ich immer an das Bordpersonal und die Piloten, die das Fliegen zu ihrem Beruf gemacht haben. Das würden sie sicherlich nicht tun, wenn sie in Gefahr wären, durch ihren Beruf ihr Leben zu verlieren.

Je mehr wir Dinge vermeiden, also aus Angst nicht tun, desto mächtiger wird die Angst. Die Angst, das ist das kleine Kind in uns, das sich nun statt Monster unter dem Bett Flugzeugabstürze oder Riesenblamagen ausmalt. Wer Kinder hat, weiß, dass man die Monster ernst nehmen muss, denn für das Kind sind sie real und lassen sich nicht weg reden. Man muss schon unter das Bett gucken und wenn die Angst bleibt, muss der mächtige Erwachsene ein Mittel finden, die Monster fernzuhalten. Ein Licht vielleicht oder ein Zauberspruch unter dem Bett. Wir müssen trotz Angst unsere Reisen machen, Herausforderungen annehmen, Vorträge halten. Geben wir der Angst nach, versäumen wir unser Leben.

Also, liebe Martina, solltest Du Dich dazu entschließen, in Chile zu bleiben, musst Du Dich auf einen Besuch von mir einstellen – trotz Flugangst 🙂

Liebe Grüße,

Deine Trina

 

Liebe Martina (3)

Liebe Martina,

es ist schon eine ganze Weile her, dass wir voneinander gehört haben und es gibt einiges zu berichten.

Das Wichtigste zuerst: der schwarze, unregelmäßige Leberfleck war gutartig. Also kein Krebs. Jetzt komme ich mir ein bisschen blöd vor, weil ich wirklich wochenlang Angst hatte. Nachdem ich das Ergebnis hatte, habe ich dann doch ‚malignes Melanom‘ gegoogelt und sofort schoss mir wieder die Angst ein: „Was, wenn die im Labor einen Fehler gemacht haben?“ oder „was, wenn ich noch mehr solcher Flecke habe und einer davon ist bösartig?“

Ich gebe zu, ich habe Angst vor Krankheiten. Vielleicht sogar irrationale Angst. Zum Glück gelingt es mir immer wieder, mich zu beruhigen. Das Leben ist nun mal ständig vom Tode bedroht. Jeden Morgen, wenn ich mit dem Auto zur Arbeit fahre, könnte mir etwas passieren. Ich könnte im Sturm von einem Ast getroffen werden, oder ausrutschen und eine Treppe hinunterstürzen. In meinem Körper könnte unbemerkt ein Tumor wachsen oder ein Aneurysma entstehen.

Niemand von uns hat die Garantie, 90 Jahre alt zu werden, egal wie viel Superfoods wir in uns hineinstopfen und wie viel Sport wir treiben. Ich glaube ja ohnehin, dass dieser Superfood Hype eine kollektive Abwehrreaktion auf die Angst vor Alter und Tod ist. Egal, ob Visite, die Ernährungsdocs, im Internet oder in Zeitschriften, überall Ratschläge und Informationen, wie wir unsere Gesundheit optimieren und Krankheiten verhindern können. Wenn man das alles umsetzen will, könnte man den ganzen Tag mit Sport, Entspannungsübungen und dem Einkauf und der Zubereitung gesunder Nahrung verbringen. Eine Garantie für ein langes, beschwerdefreies Leben wäre dies trotzdem nicht. Schließlich gibt es auch Einflüsse aus unserer Umwelt und dann noch Gene, die durchaus die Veranlagung zu der einen oder anderen Krankheit in sich tragen.

Schlimm ist nur, dass dank all der Gesundheitsratgeber chronische Erkrankungen schnell als Versagen des Betroffenen aufgefasst werden können. Dann muss sich der Kranke nicht nur mit seinem Leiden, sondern auch noch mit Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen herumplagen.

Weißt Du, Martina, über dieses Thema kann ich mich über Stunden aufregen. Auf der Arbeit ist es nicht mehr möglich, zum Geburtstag einen Kuchen zu backen. Die eine verträgt kein Gluten, die andere hat eine Glukoseintoleranz, die nächste lebt vegan, sodass der Kuchen keine Eier enthalten darf, die nächste reagiert auf Nüsse und Körner allergisch und dann macht noch irgendjemand eine low carb Diät.

Ich hab als Kind unendlich viele Würmer gegessen, wenn ich die Himbeeren vom Strauch direkt in den Mund gepflückt habe, habe die Möhren aus der Erde gezogen und ungewaschen mitsamt dem Sand gegessen, und wir haben nur einmal in der Woche gebadet, weil der Wasserkessel noch mit Kohle beheizt wurde. Immer samstags war bei uns Badetag. Erst mein Bruder, dann ich, und Sonntag zogen wir dann unsere besten Kleider an, statt den ganzen Tag in Jogginghosen herumzulungern. Im Winter hatten wir morgens Eisblumen an den Fenstern und wir waren bei Wind und Wetter draußen. Jetzt höre ich mich wirklich schon an, wie eine alte Frau, nicht wahr, und doch glaube ich, dass unser überhaupt nicht gesundheitsbewusstes Leben letztendlich gesünder war, als das so viel komfortablere und hygienischere Leben unserer Kinder heute.

Ach liebe Martina, jetzt bin ich vom Thema abgekommen. Dabei wollte ich Dir eigentlich noch von unserem Weihnachtsfest berichten und von den neusten Fortschritten beim Haus restaurieren. Aber ich muss mich sputen, ich bin heute zum Mittagessen bei Nils eingeladen und freu mich schon riesig auf die bezauberndste aller Enkeltöchter.

Das Leben ist schön! Lass es uns leben.

Liebe Grüße,

Deine Trina