Gespräch am ersten Arbeitstag:
„Ich möchte ehrlich mit Ihnen sein. Ich musste meinen letzten Arbeitsplatz verlassen, weil Eltern sich gegen mich gewendet haben.“
„Eltern aus der Kirchengemeinde?“
„Ja, sie hatten von der Geschichte in M. gehört. ‘“ Der Sozialpädagoge hatte vorher in einem Kinder- und Jugendhaus in M. gearbeitet, war dann nach Hamburg gezogen und hatte hier einen Arbeitsplatz in einer Kirchengemeinde gefunden, wo er die Konfirmanden und die Pfadfindergruppe betreute. In seiner Bewerbung stand, dass sein befristeter Vertrag auslief und er gern mit Erwachsenen arbeiten wollte.
„In M. habe ich als Fußballtrainer eine Gruppe von 10 – 12-jährigen Mädchen betreut und eine von denen hat sich in mich verliebt. Sie glauben ja gar nicht, wie frühreif die Kinder heute sind. Die kennen sich mit Dingen aus und machen einen an, das kann man gar nicht glauben.“
Mir schwant schon, was kommt.
„Dieses Mädchen wollte sich an mich ranmachen, hat mir dauernd Nachrichten geschickt und immer meine Nähe gesucht. Ich habe ihr natürlich gesagt, dass das nicht geht. Sie war total wütend und hat ihren Freundinnen erzählt, dass ich hinter ihr her bin und die haben das ihren Eltern erzählt. Dann haben alle angefangen, ihre Kinder auszufragen, und die haben dann alle gesagt, dass ich sie immer komisch anstarre. Die Eltern haben sich dann bei der Gemeinde über mich beschwert und obwohl die mir glaubten, dass da nichts war, konnte ich da nicht mehr bleiben. Deshalb bin ich dann wieder nach Hamburg gezogen, in die Nähe meiner Eltern und hab die Stelle in der Diakonie angenommen.“
Mir ist nicht wohl zumute, als der Sozialpädagoge mir diese Geschichte erzählt. Seine Arbeitszeugnisse waren in Ordnung und der Pastor der Gemeinde hat ihm eine Referenz gegeben. Er schildert die Geschichte sehr sachlich, wirkt aufrichtig und ein wenig bekümmert.
„Meine Frau hat zum Glück immer zu mir gehalten. Wir erwarten im November unser erstes Kind und auch unser Pastor steht fest auf meiner Seite. Trotzdem kann es sein, dass ich noch mal nach M. muss, weil die Eltern, als sie rausgefunden haben, wo ich jetzt arbeite, die Gemeinde in Hamburg angeschrieben haben und denen erzählt habe, dass ich auf kleine Mädchen stehe. Deshalb wurde mein Vertrag nicht verlängert und ich habe eine Klage wegen Verleumdung erhoben und muss vielleicht noch mal zur Verhandlung runter.“
„Ich wollte, dass Sie das wissen, weil mir Ehrlichkeit wichtig ist“. In diesem Fall hätte ich es lieber nicht gewusst. Die Geschichte könnte wahr sein, und ich bin froh, dass wir seine Stelle befristet haben.
Der Sozialpädagoge macht einen guten Job. Er ist sehr beliebt bei den Kollegen, die Klienten respektieren und mögen ihn. Drei Monate nach der Geburt seiner Tochter bringt seine Frau Kuchen vorbei. Ich bin überrascht, wie jung sie ist. Gerade mal 21 ist sie und trägt eine altmodische Brille. Sie sagt kaum was, wenn man sie anspricht, sondern überlässt es ihrem Mann das Kind zu präsentieren und sich für das Geschenk zur Geburt zu bedanken. Der strahlt – ganz der stolze Papa.
Das Projekt für die alkoholkranken Männer wird nicht verlängert, somit endet sein Vertrag nach einem Jahr. Er findet sofort eine neue Stelle in der Familienhilfe.
Ich denke nicht mehr an ihn, bis er ein Jahr später plötzlich in meinem Büro auftaucht.
Er fragt nach einem Job. Ich hake nach, warum er nicht mehr in der Familienhilfe arbeiten will.
Er erzählt mir, er sei zum Prozess in M. gewesen. Dort habe man ihn wegen sexueller Belästigung angezeigt. Um den Mädchen die Aussagen vor Gericht zu ersparen, habe er alles zugegeben, obwohl die Anschuldigungen einfach eine Lüge waren. Nun sei er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, müsse eine Therapie machen und dürfe keinen Job mehr machen, bei dem er mit Kindern in Berührung käme.
„Mein Vater hat mich begleitet. Sonst hätte ich das alles nicht geschafft.“
Ich habe Mühe, ihm nicht in den Schritt zu starren. Seine Hosennaht ist geplatzt und eine weinrote Unterhose blitzt hervor.
Ich teile ihm mit, dass wir keine Stellen zu besetzen haben und verabschiede ihn so schnell wie möglich. Dann setze ich mich an den Rechner und Google präsentiert mir innerhalb von Sekunden einen Artikel aus dem Städtischen Anzeiger von M. Ich erfahre, dass ein Sozialpädagoge nach dem Training regelmäßig in die Duschen der Mädchen kam und nach dem Training gern Strip Poker gespielt hat. Einige Mädchen hat er berührt und er hat mehrfach versucht, die Kinder zu sich nach Hause zu locken.
Er hat eine Haftstrafe von 1,5 Jahren auf Bewährung bekommen. Der Artikel endet mit der Bemerkung, dass der Sozialpädagoge die Aussagen der Mädchen weiterhin als Lüge bezeichnet.
In den darauf folgenden Jahren muss ich hin und wieder an den Sozialpädagogen denken und ich frage mich, was aus ihm und seiner Frau geworden ist. Von einer Mitarbeiterin, die noch Kontakt zu ihm hat, erfahre ich, dass er und seine Frau ein zweites Kind bekommen haben und er jetzt in einer Senioreneinrichtung arbeitet. Sie sind nach Schleswig-Holstein aufs Land gezogen.
Dann, eines Tages, als ich durch die Seiten einer großen schleswig-holsteinischen Zeitung surfe, fällt mein Blick auf eine Reportage über einen Prozess in Lübeck. Ein wegen sexuellen Missbrauchs vorbestrafter Sozialpädagoge, dessen Initialen mit den gleichen Buchstaben beginnen wie unser ehemaliger Mitarbeiter, ist zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Seine Frau überraschte ihn, als er an der sechsjährigen Tochter und der en Freundin sexuelle Handlungen vornahm.
Im Prozess, lese ich, schiebt der Angeklagte die Schuld auf seine Frau. Da diese seine Vergangenheit kannte, hätte sie ihn nicht mit den Mädchen allein lassen dürfen, sondern ihm helfen müssen, nicht in Versuchung zu geraten.
Das Böse verbirgt sich manchmal hinter einer freundlichen Maske. Es spielt sich im idyllischen Häuschen im Grünen ab, in der norddeutschen Kleinfamilie. Den Sozialpädagogen habe ich nie vergessen können. Er hat mir deutlich gemacht, wie aufrichtig Lügen erscheinen können und wie schwer es ist, hinter eine Fassade zu blicken.