Ich liebe meine Mutter. Aber manchmal verstehe ich sie nicht.
Schlank sein war für sie immer von besonderer Bedeutung. Noch heute, mit 76 Jahren verkündet sie stolz, dass sie 3 kg abgenommen hat, seit sie die neuen Tabletten nimmt. Dabei trägt sie, solange ich sie kenne, Größe 38.
Über Frauen, die dick sind, redet sie eher abfällig: „… so würde ich mich ja nie gehen lassen“ oder „…. man kann doch ein bisschen auf sich achten….“
Es fällt ihr sofort auf, wenn jemand zugenommen hat. „Nicole hat aber ganz schön zugelegt, mal sehen wie lange Timo das wohl mit ansieht….“.
Schlank sein ist für sie ein Synonym für Erfolg, Attraktivität und Selbstdisziplin
Nun hat sie natürlich ein Problem mit mir. Ihre Tochter ist dick geworden. Zum Vorzeigen nicht mehr geeignet.
Zu Ostern hat sie mir Almased geschenkt.
Kurz vorm Urlaub hat sie mir Fischölkapseln verabreicht. „Ingrid hat schon 7 kg abgenommen, seit sie die nimmt, weil sie dadurch überhaupt keinen Hunger mehr hat“.
Ich spreche nur ungern über mein Gewicht mit ihr. Sie behandelt mich dann, als sei ich schwer krank. „Sprich doch mal mit deinem Arzt, das er dir mal was verschreibt, dass das Wasser aus den Körper treibt.“ „Das ist ja nicht normal bei dir, lass dich doch noch mal gründlich untersuchen…“ Dazu dann ein besorgter und mitleidiger Blick…
Und heute, als ich wieder mal 130 km gefahren bin, um sie zu besuchen, da stellt sie einen noch warmen, frisch gebackenen, herrlich duftenden Pflaumenkuchen mit Bergen von Schlagsahne vor mir hin. „Den isst du doch so gerne…“
Wie bin ich froh, dass ich schon über 50 bin und die Spielchen, Macken und Widersprüchlichkeiten meiner Mutter kenne und mit ihnen im Reinen bin.
Vor 15 Jahren wäre mir sonst heute nämlich der Kragen geplatzt.