Rudi

Als wir vor 10 Jahren hierher zogen, fiel mir sein Haus auf. Es war das einzige Grundstück in der Nachbarschaft ohne die obligatorische Tanne, das akkurat geschnittene Blumenbeet und den kurz geschorenen Rasen im Vorgarten.

Ein Boot stand neben dem Haus, ebenso einige Stapel mit Holz und eine alte Zinkbadewanne. Das Gras war hoch, Blumen wuchsen ohne einem Beet zugehörig zu sein, Apfel- und Kirschbäume standen auf dem Grundstück.

Als leicht alternativ angehauchte Großstädterin mit Sympathien für Bauwagenbewohner hoffte ich auf eine unkonventionelle und jedem Spießbürgertum abgeneigte Seele zu treffen.

Ich machte seine Bekanntschaft beim Gassigehen mit dem Hund. Im Herbst, im Halbdunkel. Sein Hund und meine Hündin mochten sich und so schlossen wir Bekanntschaft.

Heute ist Rudi fester Bestandteil unseres Alltags: er verkauft Wild, das er auf dubiosem Wege bekommt, er verschachert Holz für den Kamin und jeden Dienstag bietet er uns Obst und Gemüse an, das er auf dem Wochenmarkt billig ergattert. Meist handelt es sich um Ware kurz vor dem Verfall. Seit ich ihm einmal Wild und Obst abgekauft habe und mein Lebensgefährte ihm bei Lieferung ein Bier anbot, hat er uns in sein Herz geschlossen.

Ihm entgeht nichts. Er ist bestens darüber informiert, wann ich komme, wann ich gehe und an welchen Tagen ich später als sonst nach Hause komme. Er weiß, wann wir Besuch hatten und wann wir einen Tag nicht zuhause waren. Sowie es warm wird, erscheint er mindestens einmal am Tag am Gartenzaun, um zu schauen, was mein Lebensgefährte in der Garage treibt.

Wenn ich ihm abends auf der Hunderoute begegne, dann fragt er mich, wo ich denn gewesen sei oder was mein Partner denn mit diesem alten Auto wolle. Gern erzählt er, was er sich abends kocht und wie er sein Wild zubereitet, ganz ausführlich. Gibt es darüber  nichts zu berichten, ereifert er sich über die Schlechtigkeit der Welt. Über den Bürgermeister, der meint, er sei was Besseres, über die Radioprogramme, die immer diesen „englischen Sch… „ spielen, wo es doch so schöne deutsche Schlager gibt, über die Politiker, die „unser“ Geld verschwenden und über die Idioten, die unsere Anliegerstraße als Abkürzung nehmen.

Bauwagenbewohner findet er übrigens ganz schlimm, die sollte man alle einsperren.

Ich weiß wenig über ihn. Er lässt keine Fragen zu. Fragt selbst und redet bevor man selbst den Mund aufkriegt. Von Nachbarn weiß ich, dass er schon immer hier lebt, das Häuschen von seiner Mutter – eine anständige Frau – geerbt hat und seine Frau ihn schon vor langer Zeit verlassen hat.

Im Tageslicht sehe ich die schwarzen Schmutzränder in den Halsfalten, die Hundehaare auf der Kleidung und die langen Fingernägel. Ich rieche die Küchendünste in seinen Kleidern und die Bierfahne.

Ich schätze Rudi trotzdem: im letzten Herbst, als mein Lebensgefährte in seiner Heimat weilte, knickte der Sturm eine Tanne um. Als ich abends nach Haus kam, lag der Baum in kleine Stücke zersägt auf dem Rasen. „Siehst du“, sagte Rudi beim Hundespaziergang, „jetzt hast Du wieder Brennholz.“

So ist er, der Rudi.

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