Komische Momente

Habt ihr auch manchmal Momente, in denen ihr das Gefühl habt, irgendwie am eigentlichen Leben vorbei zu leben? Zeiten, in denen ihr euch mehr Sinnlichkeit, tiefere Gefühle, Abenteuer, Inspiration, außergewöhnliche Erlebnisse und Begegnungen oder irgendetwas, das euer Leben zu etwas Besonderem macht, herbeisehnt?

Solche Phasen der nagenden Unzufriedenheit und Zweifel, ob ich in meinem Leben richtig bin, ereilen mich immer mal wieder. Dabei könnte ich nicht einmal sagen, was ich mir konkret vom Leben wünsche. Ich habe keine Träume und Sehnsüchte. Nur diese Ahnung, dass da noch mehr sein könnte.

Während ich heranwuchs, hatte ich nur diffuse Vorstellungen, wie ich mein Leben aussehen sollte. Filme, die ich als Teenager mit Leidenschaft sah, beflügelten die Vorstellung der großen Liebe und  Glückseligkeit bis ans Lebensende. Ein Leben in Südafrika oder Australien schwebte mir vor, aber ich kann heute nicht mehr sagen, was ich mir davon versprach.

Ich  wusste selten, was ich wollte. Selbst meine Studienwahl war zufällig. Damals gab es noch die Zentralvergabestelle für Studienplätze und ich hatte bei der Beantragung einen Fehler gemacht, sodass ich statt für Soziologie einen Studienplatz für Pädagogik bekam und dabei blieb ich. Mir war der Aufwand zu hoch, das zu ändern.

Ich hatte selten konkreten Ziele, für die ich mich ins Zeug gelegt habe, sondern habe mich ohne besonderen Ehrgeiz oder einem Kompass für mein Leben treiben lassen. Meistens jedenfalls. Mich angepasst.

Liegt hier vielleicht die Ursache meiner gelegentlichen Sinnkrise?

Schlecht gefahren bin ich dabei nicht. Im Gegenteil. Das Leben hat mich reich beschenkt. Meine Arbeit begeistert mich auch nach über 30 Jahren noch und da setze ich mir sehr konkrete Ziele, meine Familie ist eine Quelle von Liebe und Geborgenheit, meine Partnerschaft ist stabil, ich habe ein Dach über den Kopf und mehr als genug zu essen. Ich könnte euch nicht sagen,  was ich anders machen würde, wenn ich mein Leben von vorne leben könnte. Trotzdem erschrecke ich an manchen Tagen bei dem Gedanken, fast 60 zu sein und noch immer nach etwas zu suchen, von dem ich nicht weiß, was es ist.

Also stelle ich mir die Frage, was ich in meinem Leben unbedingt noch erleben oder sehen möchte. Und wisst ihr was, mir fällt da kaum was ein. Klar, ich möchte mal nach Kanada, und Japan stelle ich mir interessant vor, durch Russland würde ich gern reisen und für all das hätte ich gern genug Geld.  Ja, und sonst? Da fallen mir nur ganz konkrete Dinge ein: ein neues Blumenbeet mit leuchtend roten und goldgelben Farben und ein neuer Herd in der Küche und ich möchte einen Malkurs besuchen. Das sind alles erreichbare Ziele und jetzt, an diesem entspannten Sonntagmorgen erscheinen mir diese Anflüge von leichter Lebenspanik nur schwer nachvollziehbar. Oder haben diese Gefühle etwas mit dem älter werden zu tun, dem sich einschleichenden Bewusstsein, dass die Zeit endlich ist? Geht es nur mir so, oder kennt ihr das auch?

Gedanken zum kommenden Jahr

Baruch de Spinoza:

„Sein, was wir sind,
und werden, was wir werden können,
das ist das Ziel unseres Lebens.“ 

 

Für das kommende Jahr habe ich keine der üblichen  guten Vorsätze gefasst.

Ich will auch kein besserer Mensch werden, sondern es mit Spinoza halten: ich will authentisch leben, die sein, die ich bin. Das hört sich ziemlich einfach an, ist es aber nicht für jeden Menschen.

Um die zu sein, die ich bin, muss ich  zunächst einmal erkennen, wer ich bin.

Lange hielt ich mich für einen besonders netten Menschen, bis ich erkannte, dass meine Nettigkeit auf Harmoniesucht und meinem Bedürfnis, von möglichst jedem gemocht zu werden, beruhte. Ich ordnete meinen Willen und meine Bedürfnisse denen anderer unter, tat stets, was man von mir erwartete und machte niemanden Probleme. Dahinter stand aber keine Selbstlosigkeit, sondern ein Mangel an Selbstwert verbunden mit einer gehörige Portion Angst vor Ablehnung. Es ging mir nicht um den anderen, sondern um mich, darum, wie ich vor mir selbst und anderen dastand.  Nachdem ich dies erkannt hatte, lehnte ich mich selbst dafür ab. Ich empfand mich als charakterschwach und rückgratlos und war böse mit meinen Eltern und Großeltern, weil ich meinte, sie hätten mir mehr Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl mitgeben sollen.  Ich versuchte mich zu ändern und scheiterte immer wieder. Ich kämpfte gegen mich selbst, bis ich  an den Punkt kam, zu erkennen, dass ich nun mal einfach so bin.  Und ganz ehrlich, was ist schlimm daran, sich Harmonie zu wünschen und Streit zu vermeiden? Ist es nicht allzu menschlich, bedürftig zu sein und Anerkennung zu suchen? Nachdem ich mich endlich mit dieser Eigenart annehmen konnte, verblasste diese immer mehr. Ich denke, ich bin meistens immer noch ein netter und freundlicher Mensch, aber ich tue selten etwas, weil ich mich nicht traue, „ich selbst zu sein“. Wenn ich mich tatsächlich mal verbiege, und etwas tue, um z. B. die Anerkennung meiner Chefin zu erhalten, dann bin ich mir bewusst, was ich da mache und nehme es mir nicht mehr übel.

Bei dem „Sein, was wir sind“, geht es sicherlich nicht nicht nur um unsere Charaktereigenschaften,  sondern auch um unsere ganz alltäglichen Fähigkeiten, Talente und Eigenschaften. Darum, wie wir die Dinge tun und wie wir die Welt sehen.

Auch hier passiert es mir manchmal, dass ich mir wünsche, jemand „Besseres“ zu sein. So dachte ich lange, ich sei überhaupt nicht kreativ. Lange habe ich das bedauert, denn ich wäre gern ein Künstler gewesen. Heute weiß ich, dass ich durchaus ein kreativer Mensch bin, aber eben nicht im intuitiven, phantasievollem oder künstlerischem Sinne, sondern als jemand, der schnell pragmatische Lösungen finden kann, sehr schnell Strukturen entwickelt  und in Windeseile Ablaufpläne oder Gliederungen erstellen kann, immer  bezogen auf ein reales Projekt. Ich bewundere Menschen, die Traumwelten erschaffen, aber das bin nicht ich. Im Laufe der Jahre habe ich aber erkannt, was ich mit meinen Fähigkeiten, z. B. auf der Arbeit erreichen kann, nutze sie so oft ich kann und entwickle sie dadurch immer weiter. Gestern hatte ich auch meine erste Malstunde bei einer Künstlerin in der Nähe, denn ich habe die Freude am Malen wiederentdeckt. Sicherlich werde ich keine Georgia o“Keeffe, aber es macht einfach Spaß mit Pinseln und Farbe zu arbeiten. Meine Bilder spiegeln eben meine Fähigkeiten wider.

Es geht also darum, das, was wir können, was uns liegt und was wir mögen,  zu erkennen und anzunehmen und so zu leben, wie es unserem Wesen entspricht. Das bedeutet, aufzuhören  gegen unsere vermeintlichen Schwächen zu kämpfen oder danach zu streben,  jemand  Besseres zu werden. Statt dessen können wir lernen,  uns mit unseren Stärken, Schwächen, Talenten, Fähigkeiten und Eigenschaften  anzunehmen und uns so wie wir sind als gut genug zu empfinden.

Wenn uns das gelungen ist, dann werden wir, so glaube ich, von ganz allein zu dem, was wir werden können.

So wie ich Spinoza verstehe, ist dies ein Prozess oder eine Aufgabe, die uns lebenslang begleitet. Denn fertig sind wir Menschen nie, befinden wir uns doch lebenslang in einem Entwicklungsprozess.

In diesem Sinne besteht mein Ziel für das nächste Jahr darin, nach meinen besten Kräften zu leben,  meine Talente, Fähigkeiten und Eigenschaften zu nutzen und mich weiter zu entwickeln.

Ich wünsche Euch allen ein gutes Neues Jahr!