Ja-Sager: der Harmoniebedürftige – bloß keine Konflikte riskieren!
Mein Partner möchte, dass ich ihn am Wochenende zu einem Familienbesuch begleite? Aber sicher komme ich mit, auch wenn ich eigentlich gar keine Lust darauf habe und ahne, dass ich mich fürchterlich langweilen werde.
Meine Vertretung fragt, ob sie ausgerechnet an dem Freitag, an dem ich einen Urlaubstag nehmen wollte, frei haben kann. Klar, kann sie.
‚Ja-Sagen‘ ist oft der Weg des geringsten Widerstandes und ich versuche damit bewusst oder unbewusst Konflikte vermeiden. Es ist viel leichter ‚Ja‘ zu sagen, als mich mit meinem Partner über seine Famile zu streiten. Meiner Vertretung, zu der ich eh ein gespanntes Verhältnis habe, frei zu geben, als ihr Gemaule und langes Gesicht in den nächsten vier Wochen zu ertragen.
Das zu tun, was andere erwarten, vermeidet Irritationen und Auseinandersetzungen. Es gibt mir die Möglichkeit „nett“ und damit unangreifbar zu sein. Leider werde ich dadurch auch insgesamt wenig greifbar, denn wir definieren uns mit einem ‚Nein‘ sehr viel stärker als mit einem ‚Ja‘. Mit einem ‚Nein‘ setzten wir Grenzen, zeigen unseren Mitmenschen, wo für uns der Spaß aufhört, wo unsere Interessen liegen und was wir nicht mehr mit uns machen lassen. Wenn wir ‚Nein‘ sagen, müssen wir Farbe bekennen und uns dabei womöglich auch noch den Ärger des anderen anhören. Möglicherweise akzeptiert dieser auch kein ‚Nein‘ und wir müssen uns immer wieder auf die Auseinandersetzung einlassen. Das strengt an! Da ist ein ‚Ja‘ oft einfacher.
Als ich jung und frisch verliebt war, ging es mir wie so vielen jungen und frisch verliebten Menschen. Ich wollte meinem Freund gefallen und um dies zu erreichen, hörte er nie ein ‚Nein‘ von mir. Er war dann auch ziemlich schnell wieder weg, aber bei meinem 2. Freund funktionierte diese Haltung ganz phantatisch. . Ich passte mich an, sagte ‚Ja‘ zu allen Vorschlägen, stimmte ihm stets zu. Diese Beziehung endete nicht gut.
Irgendwann einmal kam der Punkt, an dem es nicht mehr ging und ich mein wahres Gesicht zeigte. Der arme Kerl fiel aus allen Wolken, als ihm klar wurde, dass ich überhaupt keinen Spaß an Fußball habe, es scheiße fand, jedes Wochenende in die gleiche Dorfdisco zu gehen und dass ich seine Freunde eigentlich nicht leiden konnte.
Im schlimmsten Fall kann ein zu spät geäußertes ‚Nein‘ Gräben aufreißen, die man nicht mehr schließen kann. Wenn der Partner (plötzlich) erkennen muss, dass wir gar sind, was wir zu sein vorgaben, ist es verständlich, dass er sich betrogen fühlt und das Vertrauen verliert.
Konflikte zu vermeiden und Gegensätze zu verschleiern stellt eine künstliche Harmonie her. Je öfter ich ‚Ja‘ sage, desto bedrohlicher kann ein Nein sein.
Im schlimmsten Fall kann das Ja-Sagen zu Beginn einer Liebesbeziehung ein ganzes Gerüst an Lebenslügen nach sich ziehen und ein einziges Nein kann das ganze Gerüst zum Einsturz bringen.
Ich war noch ziemlich jung, als ich diese Schwäche bei mir entdeckte. Das fatale ist nämlich, dass man sich als echter Harmoniesüchtiger oftmals gar nicht bewusst ist, dass das eigene ‚Ja‘ unehrlich ist. Nämlich dann, wenn wir schon früh gelernt haben, dass wir mehr geliebt werden, wenn wir anderen keine Schwierigkeiten bereiten. Vielen von uns fällt es schwer ‚Nein‘ zu sagen, weil wir uns unserer eigenen Position gar nicht mehr bewusst sind. Wir haben die Wünsche, Bedürfnisse und Ansprüche der anderen verinnerlicht und den Kontakt zu uns selbst verloren.
Dies entbindet uns als erwachsene Menschen jedoch nicht davon, das ‚Nein-Sagen‘ lernen zu müssen, wenn wir uns selbst und andere nicht ständig selbst betrügen wollen.
Leider wird ein ‚Ja-Sager‘nicht schlagartig zu einem aufrichtigen Menschen.
Mir kam das ‚Ja‘ immer wieder über die Lippen, vor einem ‚Nein‘ krampfte sich alles in mir zusammen, mein Herz schlug wie verrückt und ich bekam feuchte Hände. Mehr als einmal zog ich den Schwanz ein und sagte ‚Ja‘, obwohl ich mir geschworen hatte, standfest zu bleiben. . Dafür empfand ich mich als Weichei, als feige, rückgratlos, als Versager und minderwertig. Immer wieder versuchte ich es, und manchmal gelang es mir auch. Dann kämpfte ich hinterher mit Schuldgefühlen, sorgte mich, den anderen verletzt zu haben oder, im Falle von Partnerschaft, womöglich gar zu verlieren. Natürlich passierte meist gar nicht, es kam nicht einmal zu dem gefürchteten Streit. Es war trotzdem ein furchtbar langer Weg, das ‚Nein-Sagen‘ zu lernen und bis heute bevorzuge ich das ‚Ja‘ und die Harmonie.
Ich sage ‚Nein‘, wenn es um wirklich Wichtiges, Grundsätzliches geht, wenn es für die Partnerschaft oder für das Gelingen meiner Arbeit notwendig ist. Jedes ‚Nein‘ kostet mich Anstrengung, aber ich drücke mich nicht mehr davor. Das hat meiner Selbstachtung gut getan.
Nein-Sagen hat viel mit Selbstwertgefühl zu tun. Viele harmoniebedürftige Menschen sind eher selbstunsicher und ängstlich und können nur schlecht mit der (meist gar nicht realen) Gefahr umgehen, zurückgewiesen zu werden oder den Groll anderer auf sich zu ziehen.
Es gibt im Übrigen Situationen, da wird das ‚Ja-Sagen’ um jeden Preis zur gesellschaftlichen Gefahr. Es gibt Gruppen, die ein Zusammengehörigkeitsgefühl aufbauen, indem sie andere Gruppe entwerten, gering schätzen und erniedrigen. Damit meine ich nicht nur politische Parteien, dies kann auch im Sportverein oder in der Familie geschehen. Wer dann zustimmt, nur um dazu zu gehören oder einem anderen zu gefallen, der wird zum Mitläufer, der fördert womöglich Rassismus, Sexismus und andere extreme oder menschenverachtende Gesinnungen.
Es ist wichtig, sich seiner Grenzen bewusst zu sein. Zu wissen, wo ich mich nicht weiter öffnen, sondern mich verschließen will und mich gegen etwas stellen muss, um meinen Werten und mir selbst treu zu bleiben. Darüber mehr in der nächsten Woche.
Auch eine gute Methode !
Sandwich-Methode: erst etwas Positives sagen, dann das ‚Nein‘ und dann noch einmal etwas Positives. Ein ‚Nein‘ soll ja auch nicht brüskieren oder verletzen (auch wenn sich das manchmal nicht vermeiden lässt), sondern einfach nur ausdrücken, dass man etwas nicht tun möchte oder etwas nicht zustimmt. Grade wenn das ‚Nein-sagen‘ schwer fällt, finde ich es ganz ok, wenn man es zunächst einmal ein bisschen „verpackt“.
Ja, das finde ich auch. Sehr hilfreich ist es auch, wenn man anderen Leuten zuschaut. Ich habe eine Freundin, die Sozialarbeiterin ist und ich bewundere sehr, wie sie die unangenehmsten Dinge inklusive totaler Ablehnung auf die freundlichste Art und Weise rüberbringen kann. Ihre „neins“ sind soooo nett verpackt 🙂
Ach, der Wille war immer da, er war uns nur nicht bewusst. Wir hatten gelernt, ihn zu verdrängen.
Danke. Und das Schöne ist, je öfter man ‚Nein‘ sagt, desto leichter fällt es einem.
„Nämlich dann, wenn wir schon früh gelernt haben, dass wir mehr geliebt werden, wenn wir anderen keine Schwierigkeiten bereiten. Vielen von uns fällt es schwer ‘Nein’ zu sagen, weil wir uns unserer eigenen Position gar nicht mehr bewusst sind. Wir haben die Wünsche, Bedürfnisse und Ansprüche der anderen verinnerlicht und den Kontakt zu uns selbst verloren.“
Ich bin zwar auch schon einen Schritt weiter (denke ich), aber grundsätzlich sind das Sätze zum Ausdrucken und übers Bett hängen. Vielen Dank dafür!
Liebe Grüße
Christiane
Das „Ja“-Sagen, um einem Freund oder Liebhaber zu gefallen, kenne ich auch recht gut. All diese Beziehungen scheiterten über kurz oder lang. Und als Kommentar bekam ich dann recht häufig zu hören: „Ach, als wir uns kennen lernten, dachte ich, du bist eine starke Frau. Aber das stimmt nicht, du hast so gut wie gar keinen eigenen Willen.“ 😉
Sehr gut analysiert und beschrieben. Da bin ich ganz deiner Meinung. So ein „Nein“ kann sehr befreiend sein !
Durch das „Neinsagen“ habe ich falsche Freunde verloren 😉