Frau G. ist 29 Jahre alt. Teil ihrer Kindheit verbrachte sie in Heimen, ihre Eltern waren alkoholabhängig und körperliche, seelische und sexuelle Gewalt gehören zu ihren frühsten Kindheitserfahrungen.
Mit 18 verließ sie das Heim ohne Schulabschluss und lernte einen wesentlich älteren Mann kennen. Dieser besaß eine Diskothek und gab Frau G. einen Job an der Bar. Dort lernte sie ihren nächsten Partner kennen, der mehrere Boutiquen besaß und ihr eine Stelle als Geschäftsführerin einer seiner Läden anbot. Als ihr Partner pleite ging, betreute Frau G. eine Zeitlang einen pflegebedürftigen älteren Mann, bis dessen Angehörige ihn in ein Heim schafften. Ihr nächster Partner besaß einen Nachtclub und auch er fand Beschäftigung für seine Partnerin. Der Alkohol- und Drogenkonsum von Frau G. stieg während dieser Jahre ins Unermessliche und als ihr Partner keine Verwendung mehr für sie hatte, war Frau G. psychisch und körperlich ein Wrack. Unglücklicherweise hatte ihr letzter Lebenspartner keine Sozialversicherungsbeiträge für sie entrichtet, so dass Frau G. nun Arbeitslosengeld II beantragen musste. Die Fallmanager stellten schnell fest, dass Frau G. nicht arbeitsfähig war und es folgten Grundsicherung und mehrere Aufenthalte in der Psychiatrie, wobei Frau G. ihre Therapien immer wieder abbrach.
Nun, 5 Jahre später, ist sie in unserer Einrichtung und wir haben den Auftrag, sie wieder ans Arbeitsleben heranzuführen.
Nach einigen Wochen intensiver Schulung, sozialem Kompetenztraining, Beratung und Coaching entschied sich Frau G. ihr erstes Praktikum in einer Gärtnerei beginnen. Hierfür benötigt sie Arbeitskleidung. Wie alle Rehabilitanden soll sie diese bei unserem Lieferanten abholen.
Frau G. weigert sich und teilt der betreuenden Psychologin mit, dass sie auch in der Gärtnerei gut aussehen möchte und deshalb ihre Arbeitskleidung lieber selbst aussuchen möchte. Unsere Psychologin verweist sie an mich und ich bitte Frau G., mir eine Preisliste ihres Lieferanten mitzubringen und sage ihr zu, dass sie bei ähnlichen Preisen ihre Kleidung beim Händler ihres Vertrauens beziehen könne.
Am nächsten Tag legt mir Frau G. einen Kostenvoranschlag auf den Tisch. Frau G. möchte zwei Arbeitshosen, 1 warme Jacke, ein Paar Gummistiefel, Handschuhe und Regenjacke für knapp 400 Euro.
Ich teile Frau G. mit, dass diese Preise inakzeptabel sind, da sie qualitativ gleichwerte Kleidung wesentlich günstiger von unserem Lieferanten beziehen kann. Darauf teilt sie mir mit, dass sie es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren kann, wirtschaftliche Verbindungen zwischen zwei großen Unternehmen zu unterstützen, damit alle kleinen Händler kaputt gehen.
Ich will nicht lange mit ihr diskutieren und teile ihr mit, dass ich es ihr frei stelle, die Arbeitskleidung anzunehmen oder für die Summe X bei einem anderen Händler einzukaufen.
Am nächsten Tag erhalte ich einen Anruf unserer Psychologin. Frau G. posaunt nun in der Gruppe herum, dass sich unsere Einrichtung auf ihre Kosten bereichern will und dabei gemeinsame Sache mit anderen Firmen macht. Sie weigert sich, ins Praktikum zu gehen, weil man ihr Arbeitskleidung vorenthalte. Sie droht damit, sich beim Kostenträger zu beschweren und lässt sich auch nicht beschwichtigen. Unter den anderen Klienten verbreitet sich Unruhe.
Ich bitte Frau G. noch einmal zum Gespräch und erkläre ihr wiederum, dass unser Lieferant nicht nur uns, sondern zahlreiche Unternehmen in der Stadt beliefert usw. usw. und die angebotene Kleidung für ein zweiwöchiges Praktikum ausreichend sei. Ich biete ihr zusätzlich warme Socken an. Frau G. wirft mir Betrug vor und droht mit der Polizei. Ich sage ihr, dass ihr dies frei gestellt sei. Sie solle sich aber bitte überlegen, ob sie das Praktikum am kommenden Montag antreten möchte oder nicht.
Eine knappe Stunde später erhalte ich einen Anruf vom Kostenträger. Frau G. sitzt vor ihm und beschwert sich darüber, dass wir ihr Arbeitskleidung vorenthalten. Ich erkläre ihm den Hintergrund der Beschwerde.
Am nächsten Tag, Donnerstag, teilt Frau G. ihrer Betreuerin mit, dass sie das Praktikum antreten wird und die Arbeitskleidung von unserem Lieferanten nehmen will. Ihre Betreuerin, Frau Mandel, führt noch ein langes Gespräch mit ihr. Am Freitag kommt sie nicht in die Einrichtung und wir sind alle gespannt, ob sie am Montag wohl das Praktikum antreten wird. Ein Anruf schafft schnell Klarheit, sie ist pünktlich gekommen und wir atmen auf.
Nun sind wir alle gespannt, ob sie das Praktikum durchhält.
So ein Verhalten wie das von Frau G. sehen wir in vielen Varianten immer mal wieder.
Frau G. hat Angst. Große Angst. Bislang waren ihre Arbeitgeber immer auch ihre Liebhaber oder Gönner gewesen. Die Erfahrung, sich zu bewerben und mit Qualifikationen oder durch gute Arbeitsleistung zu überzeugen, hat sie noch nie gemacht. In den Jahren des Drogenmissbrauchs, durch die Depressionen und die Medikamente, die sie einnimmt, haben ihre kognitiven Fähigkeiten gelitten. Sie kann sich schlecht konzentrieren und nur schwer Neues merken. Hinzu kommt, dass sie das „normale“ Arbeitsleben nur ansatzweise kennt und trotz Coaching und psychologischer Unterstützung unsicher ist, wie man sich adäquat verhält.
Ich denke, dass der Kampf um die Arbeitskleidung sie von ihrer Angst zu versagen, den Anforderungen womöglich nicht gewachsen zu sein, abgelenkt hat. Gleichzeitig war es ein unbewusster Versuch, nicht ins Praktikum zu müssen, denn schließlich hat die „böse“ Einrichtung ihr ja nicht die notwendigen Mittel dafür zur Verfügung stellen wollen.
Heute hat sie den 3. Tag im Praktikum gehabt und bislang ist alles gut gegangen.
Fortsetzung folgt.
Bin gespannt auf die Fortsetzung.