Stinkefinger am Morgen

In der Nähe meines Büros gibt es ein altes Hotel, verkommen, mit Müll vor der Tür. Eher eine Absteige. Seit einiger Zeit leben dort Menschen mit, wie man so schön sagt, „südländischem Aussehen“. Einige dieser Menschen sind schon sehr alt. Ich beobachte sie manchmal dabei, wie sie die Mülltonnen nach Pfandflaschen durchsuchen.

Heute morgen kam ich mit meinem Auto um die Ecke gebogen, als einer dieser alten Menschen auf die Straße kam. Als er mich sah, trat er sofort zurück auf den Gehweg. Ich habe angehalten und ihn durchgelassen. Dies führte zu einem Hupkonzert aus dem Audi hinter mir. Der Fahrer versuchte sogar, sich in der engen Kopfsteinpflasterstraße an mich mich vorbei zu quetschen. Gelang ihm nicht. Als ich 10 Sekunden später anfuhr, der Mann mit seinen zwei Plastiktüten hatte inzwischen die Straße überquert, sah ich im Rückspiegel, wie mir Fahrer und Beifahrer, zwei junge Männer in Hemd und Krawatte, den Stinkefinger zeigten.

Die beiden hatten es wohl sehr eilig. Der Weg durch diese engen Gassen ist eine beliebte Abkürzung zu einer der größten Straßen in Hamburg. Trotzdem,  30 Sekunden Zeit müssen sein, um einen anderen Menschen zu zeigen, dass man ihn wahrnimmt und seine Rechte respektiert. Auch im Straßenverkehr. Schließlich war er eher auf der Straße als ich und wo kämen wir wohl hin, wenn nur noch der blanke Egoismus herrscht.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es das Lebensziel dieses alten Mannes mit Plastiktüten voller dreckiger leerer Pfandflaschen war,  in einer versifften Absteige in einer schmutzigen kleinen Seitenstraße einer fremden Großstadt zu leben.

Ob dieses beiden arroganten jungen Kerlen wohl klar ist, dass es reines, pures Glück ist, in einem reichen Land geboren zu werden? Einem Land, das jedem hier geborenen Chancen auf Bildung, Beruf und Aufstieg gibt? Ich hoffe, sie haben mehr Achtung vor ihren Eltern und Großeltern als vor diesem alten Mann und vor der dummen Kuh, die sie wegen dieses Kerls zum Anhalten zwang.