Gibt es ein Problem?

„Wenn du ein Problem hast, versuche es zu lösen. Kannst du es nicht lösen, dann mache kein Problem daraus.“ (Buddha)

Als ich diesen Spruch von Buddha fand, ließ er mir keine Ruhe. Zuerst fand ich ihn einleuchtend und hätte gern was Kluges drüber geschrieben, aber als ich anfing drüber nachzudenken, konnte ich keine Worte finden.

„Was ist denn eigentlich ein Problem?“, fragte ich mich, „wie definiert man das?“ Ich googelte die Definition von Problem und fand heraus, dass ein Problem

  1. Ausgangslage besteht, die nicht unseren Wünschen oder Vorstellungen entspricht, oder aus einer Frage, für die uns eine Antwort fehlt.
  2. Wir wissen, wie Situation unseren Wünschen oder Vorstellungen entsprechen würde, aber
  3. uns fehlen die Mittel oder Möglichkeiten, um die Situation entsprechend zu verändern.

Nachdem ich nun wusste, wie man Problem definiert, suchte ich ein Beispiel  aus meinem Leben, auf den dieser Spruch zutreffen könnte. Dabei kam mir in den Sinn, dass es mein Übergewicht ist, das mich vor 2 Jahren dazu geführt hatte, einen Blog zu schreiben. Ich wollte mich durch einen Blog zum Durchhalten meiner Ernährungspläne motivieren

Es fiel mir überhaupt nicht schwer, mir Strategien zu überlegen, mit denen ich abnehmen könnte. Im Gegenteil, ich war (und bin) geradezu ein Experte über die Inhalte und Nährwerte unserer Lebensmittel, weiß über Ballaststoffe, gesättigte, ungesättigte und einfach gesättigte Fettsäuren bestens Bescheid, ebenso über den glykämischen Index von Nahrungsmitteln und kenne die Konzepte vieler Ernährungsphilosophien.

Ich entschied mich für eine fettarme Ernährung mit viel Gemüse und wenig Fleisch, wollte alle zuckerhaltigen Produkte meiden und mich mehr bewegen. An manchen Tagen gelang es mir tatsächlich mich so zu ernähren, aber an den anderen Tagen aß ich dafür umso mehr. Kaum hatte ich 500 g abgenommen, hatte ich sie wieder drauf. Zeitweilig hatte ich sogar 3 kg mehr als zu Beginn meines Abnehmplans.

Was also hat mich davon abgehalten, so zu essen, dass ich nach und nach abnehme?

Es war die Psyche. Sie hat sich gewehrt. Essen diente für mich nicht nur der Nahrungsaufnahme, sondern war mein Tröster, mein Verbündeter, mein treuer Freund, mein Beschützer. Mit Essen konnte ich meine Gefühle abwehren, ich konnte mit Essen einen Erfolg feiern oder mich über einen Misserfolg hinwegtrösten. Ich gönnte mir ein extra teures und extra kalorienreiches Eis zur Belohnung und wenn ich mich einsam fühlte, dann half eine große Tafel Schokolade mit Nüssen. Aber auch Freunde und Familie wurden reichhaltig bekocht, denn Essen war für mich ein Mittel, Zuneigung und Liebe auszudrücken.

Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich begriff, dass nicht das Essen, sondern mein eigener Umgang mit mir selbst mein Problem, das Übergewicht, verursacht hatte. Als ich das erkannte, hörte ich auf, das Problem ‚Übergewicht‘ lösen zu wollen. Ich ernährte mich weiterhin so gesund wie möglich, aber ich machte mir keine Ernährungspläne mehr und mied die Waage.

Ich hörte auf, ein Problem aus meinem Gewicht zu machen. Mich wegen jedem Eis, das ich aß, zu schämen. Ständig mit schlechtem Gewissen herumzulaufen, weil ich wieder mal zu viel gegessen hatte. Mir nur noch farblose Kleidung zu kaufen, in der ich mich verstecken konnte.

Es gab etwas in mir, das noch nicht bereit ist, das Problem ‚Übergewicht‘ zu lösen. Als ich das erkannte, begann ich,achtsamer mit mir umzugehen. Seither übe ich, gut zu mir zu sein, mich liebevoll zu betrachten, nachsichtig und geduldig mit meinen Schwächen umzugehen und meine Stärken zu leben.

Ich habe im letzten Jahr  8 Kilo abgenommen. Das ist nicht viel, aber es ist deutlich mehr als in dem Jahr, als mein Denken vor allem ums Abnehmen kreiste. In dem Jahr verlor ich grade mal 1 Kilo.

Seit einigen Monaten hat sich mein Essverhalten geändert. Immer öfter reichen mir  3 Mahlzeiten am Tag und das Bedürfnis nach dem Naschen zwischendurch wird immer seltener. Ich will mich abends nicht mehr vollzustopfen bis ich so schwer bin, dass ich nicht mehr vom Sofa hoch komme, denn schließlich will ich noch was vom Abend haben.

Es ist mir damals nicht gelungen, mein Problem ‚Übergewicht‘ in den Griff zu kriegen. Meine Willenskraft und Selbstdisziplin reichten nicht aus. Ich wollte abnehmen, aber gleichzeitig weiter essen wie zuvor.

Das, was ich als Problem definiert hatte, war gar nicht das eigentliche Problem. Darunter lag noch ein Problem, das viel schwer-wiegender war. Erst seit ich mich mit diesen Problemen aktiv auseinandersetzten, klappt es auch mit dem Abnehmen.

 

 

 

 

 

 

Ein Lebensmuster, Teil 2

Wer stets versucht, allen zu gefallen, der sitzt irgendwann zwischen allen Stühlen. Leider hat derjenige, der zwischen allen Stühlen sitzt, keinen eigenen Platz. Er bezieht auch nicht wirklich Position. Wenn alles gut geht, fällt das niemanden auf.

Unsere dicke, nicht mehr ganz junge Frau war Meisterin darin geworden, ihre Positionen zu wechseln, und wenn das einmal jemanden auffiel und er sich beschwerte, dann war unsere nicht mehr ganz junge, dicke Frau eine Meisterin darin geworden, stets alle Gemüter zu besänftigen und nicht selbst ins Zentrum der Kritik geraten. So hatte sie zwar stets ihre Kraft darauf verwandt hatte, anderen  gefällig zu sein und brav deren Erwartungen zu erfüllen, aber es war ihr auch gelungen, sich stets in der Rolle der „Guten“ zu fühlen und Konflikten aus dem Weg zu gehen. Dies nicht nur in der Familie, sondern auch auf der Arbeit.

Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube zu meinen, dass Menschen, die sich stets an den Bedürfnissen anderer orientieren, selbstlos sind. Im Gegenteil, oft haben sie große Angst, ihre eigenen Bedürfnisse und negativen Gefühle wahrzunehmen oder sie gar zu zeigen. Sie beschäftigen sich viel damit, wie andere sie wahrnehmen und hoffen darauf,  dass die Menschen, denen sie sich so meisterhaft anpassen,  sie durch Liebe und Anerkennung belohnen, oder gar ihre Bedürfnisse erraten und erfüllen. Tun sie dies nicht, dann  fühlt sich unser gefälliger Mensch so manches Mal als Opfer und vergisst dabei, dass niemand ihn gebeten hat, sich ungefragt für das Wohlergehen aller verantwortlich zu zeigen.

Als unsere dicke und nicht mehr junge Frau dies  erkannte, wurde sie sehr böse auf sich. Sie verunglimpfte sich als wankelmütiges Weichei, rückgratloses Ungeheuer und  Versagerin. Kein gutes Haar ließ sie an sich. Sie meinte, als Mutter versagt zu haben, empfand sich als schlechte Leitung und  als Springmaus für alle. Schlimmer noch, ihr wurde plötzlich klar, wie selbstzentriert  und manipulativ sie häufig handelte. Wie oft war sie einfach davon ausgegangen, zu wissen, was der andere brauchte. Stets war es ihr wichtiger gewesen, vor sich und anderen gut da zu stehen, statt sich wirklich in den anderen einzufühlen. Sie schämte sich dafür und fühlte sich schuldig für ihren Egoismus.

Aus lauter Wut auf sich selbst, fraß sie noch mehr. Sie konnte sich überhaupt nicht mehr leiden und beschloss, sich zu ändern. Von nun an würde sie sich stets  eine eigene Meinung bilden,  immer eine klare Position beziehen, Konflikte auszutragen und konsequent auf sich selbst achten.

Sie stellte schnell fest, dass es ihr nicht gelang. Immer wieder fiel sie in ihr vertrautes Muster zurück.

Sie hatte den wichtigsten Schritt unterlassen: zu lernen, sich selbst so anzunehmen und zu lieben, wie  sie nun einmal war.   

Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass sich hinter ihrem Verhalten der Wunsch nach Kontrolle verbarg,  und hinter dem Wunsch nach Kontrolle die Angst, verlassen, allein und ungeliebt zu bleiben. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand sie um ihrer selbst willen lieben konnte.  

Sie war  ein Mensch geworden, der  gefallen will und deshalb jedem gefällig ist, ein Mensch, der meint, immer verfügbar sein zu müssen, weil er tief im Inneren glaubt, dass alle anderen wichtiger und besser sind als er, und ein  Mensch, der keine eigene Position beziehen mag, weil dann die Gefahr besteht, jemanden gegen sich zu wenden.  Ein Mensch, der lieber manipuliert als offen und direkt seine Anliegen zu äußern.  Aber sie war auch ein Mensch, der freundlich und hilfsbereit ist, ein Mensch, der andere Menschen mag, der gewissenhaft und zuverlässig, der einfühlsam und empathisch und warmherzig und liebevoll, intelligent und klug ist.   

Wir können uns erst verändern, wenn wir üben, uns selbst mit unseren Schwächen und Verletzungen, Ängsten und Charakterfehler wirklich anzunehmen und zu lieben. Dabei dürfen wir aber unsere Stärken, Talente und guten Eigenschaften nicht übergehen, denn jeder Mensch hat neben seinen Mängeln auch starke Seiten, Begabungen und Fähigkeiten und diese müssen wir uns ebenso bewusst machen und lieben und akzeptieren lernen.  

Wir entwickeln uns über unsere alten Muster hinaus, wenn wir begreifen, dass wir als Erwachsene selbst für uns, unsere Gefühle, Gedanken und Einstellungen verantwortlich sind und die Befähigung haben, für uns selbst zu sorgen.  Dabei brauchen wir viel Zeit und Geduld,  um ein Muster, dem  wir 20, 30 oder gar 40 Jahre gefolgt sind, durch ein neues zu ersetzen.

 Nachdem unsere nicht mehr junge, dicke Frau begann, dies zu verstehen und achtsamer mit sich umzugehen,  ging es ihr nach und nach immer besser.   Sie erkannte ihr Muster in verschiedenen Varianten bei vielen anderen Menschen wieder und sah ein, dass sie in ihren Schwächen nicht einzigartig war. 

Sie begann, sich auf ihre positiven Seiten zu konzentrieren. Immerhin hatte sie trotz ihrer Muster,  einiges im Leben erreicht.  Ihre Kinder kamen gut im Leben zurecht. Sie lebte in einem schönen Haus und hatte einen verlässlichen Partner. Auf der Arbeit war sie erfolgreich, und sie hatte einen reichen Schatz an Kenntnissen und Erfahrungen an ihre jungen Mitarbeiter weiterzugeben. 

Sie übte fortan, sich eine eigene Meinung über die Dinge zu bilden und daran zu arbeiten, Kompromisse zu finden, die alle Seiten zufrieden stellten. Dabei konnte sie ihre in der Rolle der Gefälligen entwickelten Fähigkeiten auszugleichen und zu besänftigen am Arbeitsplatz hervorragend nutzen. Da sie selbst ihre Position gefunden hatte, also auf einem eigenen Stuhl saß, empfand sie ihre Leitungsfunkton nun auch als nicht mehr so anstrengend. 

Was im Berufsleben mit einiger Übung recht gut funktionierte, erwies sich im Privatleben als schwieriger.Da sie immer das gewollt hatte, was die anderen vermeintlich wollten, hatte sie kein Gespür dafür entwickelt, was sie selbst eigentlich gern mochte und was ihr gut tat. 

Bis heute arbeitet  die nicht mehr ganz junge Frau daran, ihre Bedürfnisse, Gefühle und Wünsche zu erkennen und anzunehmen und die Verantwortung für ihre Erfüllung selbst zu übernehmen.  

Sie erwartet nicht mehr von sich, in wenigen Jahren ein Verhaltens-, Gedanken- und Gefühlsmuster abzulegen, die  sie über so viele Jahre zur Perfektion gebracht hat. Sie mag sich heute auch dann noch,  wenn sie man mal wieder in alte Fallen getappt ist.  Es fällt ihr jetzt früher auf,  wenn sie auf alten Pfaden unterwegs ist. Sie nimmt es sich nicht mehr übel, sondern ermutigt sich, es beim nächsten Mal anders zu machen. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit auf  ihre Erfolge und  die vielen schönen Dinge, die das Leben ihr schenkt.

Die dunklen Tage, wenn sie sich selbst nicht mag, sich ihre Fehler und Schwächen vorwirft, werden weniger.

Sie hat begonnen, sich an die Dinge zu erinnern, die sie als Kind und junges Mädchen interessiert haben: Schreiben, Literatur, Sprachen, Malen und Bewegung, Fahrrad fahren, Yoga, Zusammensein mit Freunden, Schwimmen,  Mode und Make-up, Kochen. Sie erkundet, ob diese Dinge ihr heute noch Spaß machen und gut tun. Sie macht Ausflüge und sie experimentiert wieder in der Küche. Sie empfindet ihr Leben als bunt, interessant und spannend. Sie ist weiterhin engagiert auf der Arbeit, das Privatleben ist nun aber mindestens ebenso wichtig. Sie achtet darauf, Zeit für sich allein zu haben, zum Lesen, zum Tagebuchschreiben und sie sucht den Kontakt zu Freunden und Familie.

Sie stellt sich andere Fragen: Wie fühlt sich das an? Bin ich entspannt in dieser Situation oder verbiege ich mich grade? Tut mir das gut? 

Sie beginnt langsam zwischen Selbstbezogenheit und gesunder Selbstfürsorge zu unterscheiden. Sie versucht, andere so zu unterstützen, wie diese es brauchen, statt durch Hilfsbereitschaft zu manipulieren und zu kontrollieren.

Mittlerweile ist aus der dicken, nicht mehr ganz jungen Frau eine vollschlanke Frau im mittleren Alter geworden, die davon überzeugt ist, dass es die Lebensaufgabe eines jeden erwachsenen Menschen ist,  sich selbst anzunehmen  und seine Persönlichkeit, seine Fähigkeiten und Begabungen zu entfalten und sich  mit ihnen in diese Welt einzubringen.

Das Leben ist ihr dabei ein guter Lehrmeister. Neben individuellen Lernaufgaben und Prüfungen  hält es viele Belohnungen bereit: Sommertage, phantastische Landschaften, Freude an der Bewegung, Lachen, Vogelgezwitscher, Sturm, gute Filme und Bücher, großartige Bilder, Abenteuer, Erlebnisse und Erfahrungen und immer wieder neue Erkenntnisse….