Perfektionismus ist der ärgste Feind der Selbstliebe

Ich treffe in meinem Beruf immer wieder auf Menschen, die sich erst dann für liebenswert halten, wenn sie perfekt sind. Sie wollen perfekt aussehen, sowohl im Beruf als auch im Privatleben alles richtig machen und stets Höchstleistungen vollbringen. Leider ist das nicht möglich, denn perfekt ist bestenfalls der liebe Gott. Wir Menschen hingegen sind fehlbar. Sehr fehlbar sogar.

Menschen, die zu Perfektionismus neigen, haben oft sehr früh erfahren, dass sie um Zuwendung zu erfahren oder gesehen zu werden, hervorragende Leistungen erbringen müssen. Sie wurden geliebt, wenn sie die Erwartungen anderer erfüllten. Anderen wurde die Liebe entzogen, wenn sie Fehler machten, ungeschickt waren oder nur mittelmäßige Leistungen erbrachten. Perfektionisten streben an, unantastbar, fehler- und makellos zu sein. Erst wenn sie das erreicht haben, können sie sich sicher fühlen. Ihr Selbstwertgefühl hängt von Erfolg und Anerkennung durch andere ab.

Natürlich hat fast jeder von uns als Kind erfahren, dass sich unsere Eltern freuen, wenn wir gute Schulnoten nach Hause bringen, im Sport erfolgreich sind oder irgendetwas toll gemacht haben. Dass eine gute Leistung Anerkennung nach sich zieht, haben wir alle schon früh erfahren und die meisten von uns dazu motiviert, sich auch beim nächsten Mal wieder anzustrengen. Die meisten von uns haben aber auch die Erfahrung gemacht, geliebt und gewollt zu sein, wenn wir hin und wieder eine Klassenarbeit verhauen haben oder unser Selbstgebasteltes schief und krumm war.

 Die Perfektionisten, die ich treffe, haben diese Erfahrung, um ihrer selbst willen geliebt zu werden, meist nicht oder nicht intensiv genug gemacht. Sie halten sich nur dann für liebenswert, wenn sie Höchstleistungen erbringen. Sie arbeiten sehr hart, sie geben sich stets ganz viel Mühe, versuchen, es Vorgesetzten und Kollegen recht zu machen und vernachlässigen darüber sich selbst. Sie sind selten mit sich zufrieden, sondern hacken gern auf ihren eigenen Schwächen herum, bekämpfen diese und sind ständig bemüht, sich selbst zu optimieren.

 Damit verbunden sind Einstellungen wie ‚ich muss stets der Beste sein‘ oder‘nur wenn ich alles gebe und noch ein bisschen mehr, gebe ich genug‘ usw. Wenn ich diese Menschen auf der Arbeit kennen lerne, sind sie meist wegen eines „Burn-outs“ bei uns. In ihrem Bestreben, stets alles zu geben und beruflich voran zu kommen, sind sie in eine Erschöpfung geraten, oder, schlimmer noch, an die Grenzen ihrer Fähigkeiten und ihres Könnens. Meist haben sie vergeblich versucht, durch noch mehr Anstrengung die Grenze zu übertreten und haben dabei schlimme Misserfolgserlebnisse erleben müssen.

 Die meisten Perfektionisten sind darauf angewiesen, dass ihre außergewöhnlichen Leistungen honoriert werden. Bleibt die Anerkennung aus oder werden sie von einem noch leistungsstärkeren Menschen von ihrem Platz verdrängt, dann fehlen ihnen Ressourcen, um mit dem Misserfolg umzugehen. Verlieren sie, aus welchem Grund auch immer, ihre Leistungsfähigkeit, bleibt oft nichts übrig, aus dem sie Selbstwertgefühl gewinnen können.

 Mit der gleichen Intensivität, mit der sie sich zuvor zu Bestleistungen getrieben haben, werten sie sich nun selbst ab, zweifeln an sich und empfinden sich als Versager und  als wertlos.  Oft  gehen sie nun in die Depression.

Menschen, die sich selbst lieben, haben durchaus auch Freude an Leistung, sind ehrgeizig und freuen sich über Anerkennung anderer. Ihr Motiv, eine gute Leistung zu erbringen, unterscheidet sich von der des Perfektionisten. Sie haben einfach Freude an ihrem Job, wollen lernen und weiterkommen, haben Spaß an der Herausforderung  oder wollen einfach nur viel Geld verdienen durch eine bessere Position,  um sich damit einen Traum zu erfüllen.  Sie können akzeptieren, dass sie an manchen Tagen nicht so leistungsstark sind wie an anderen und sie gestehen sich auch mal zu, nur mit halber Kraft zu laufen. Sie vertrauen ihren  Fähigkeiten und können sich Fehler oder Misserfolge verzeihen. Ihre Partnerschaft, ihre Freundschaften und ihre anderen Interessen sind ihnen ebenso wichtig wie der Job. Wenn die Arbeit es erfordert, gehen auch sie über ihre Grenzen, aber sie tun es, weil sie es für notwendig erkennen und nicht, weil sie einen inneren Antreiber haben, der sie stets zu mehr Arbeit als notwendig treibt.

 Sie ziehen ihr Selbstwertgefühl aus der Gewissheit, dass sie so, wie sie sind, genau richtig sind. Sie sind sich ihrer Stärken und Fähigkeiten bewusst, aber sie kennen auch ihre Schwächen. Sie haben an sich nicht den Anspruch, perfekt zu sein, sondern bemühen sich einfach nur ihr Bestes zu geben, auch wenn dieses vielleicht nicht vollkommen ist.

 Perfektionismus hat noch viele andere Gesichter. Er  ist der ärgste Feind der Selbstliebe, denn unglücklicherweise lässt sich der Zustand der Perfektion nie erreichen und mit dem anhaltenden Streben nach Vollkommenheit hält sich der Mensch immer wieder vor, dass er so, wie er ist, nicht gut genug ist.

Es geht mir einfach nicht aus dem Kopf

…. dieses Thema Selbstliebe. Ich bitte also um Nachsicht, wenn ich mich hier wiederhole.

Schon sehr früh habe ich die Einstellung entwickelt, dass die Bedürfnisse und Gefühle anderer  Menschen wichtiger sind als meine eigenen und dass es in meiner Verantwortung liegt, dafür zu sorgen, dass alle, aber insbesondere die Männer in meinem Leben einschließlich meiner Vorgesetzten,  glücklich und zufrieden sind.

Ich habe viele Jahre recht zufrieden und einigermaßen erfolgreich mit diesen Einstellungen gelebt. Bis ich  in eine Lebenskrise glitt. Einige Jahre war ich vor allem unzufrieden und unglücklich, litt unter Schuldgefühlen und fühlte mich in einer Sackgasse. Ich steckte meine ganze Energie in die Arbeit, wo ich mich als kompetent und in Kontrolle erlebte, und nahm 25 kg zu.

Meine Arbeit stabilisierte mich in dieser Phase, und, da ich in einem helfenden Beruf arbeite, der es notwendig macht, immer auch meine Motive und mein eigenes Verhalten zu reflektieren, war mir durchaus auch bewusst, was ich da so trieb. Also begann ich, bei mir selbst das zu praktizieren, was ich sonst gern anderen nahe lege: Selbstliebe.

Dadurch hat sich mein Leben nicht wie durch ein Wunder verändert, aber ich beschäftige mich nun weniger mit meinen Defiziten und Mängeln, als damit, wie ich mein Leben erfüllt leben kann

Ich übe, mich selbst bedingungslos anzunehmen und liebevoll und fürsorglich mit mir umzugehen. Selbstliebe bedeutet für mich, die Verantwortung für mein Wohlergehen und mein Leben zu übernehmen. Dabei merke ich, dass ich gleichzeitig ein anderes Verständnis und eine andere Art der Toleranz und Akzeptanz anderen Menschen gegenüber entwickle. Je besser ich mich selbst liebenlerne, desto besser kann ich auch mein Gegenüber so annehmen, wie es ist oder sich grade verhält.

Selbstliebe zeigt sich in Taten, darin, wie ich mit mir selbst im Alltag umgehe und in der Haltung, die ich mir gegenüber einnehme.

Natürlich gelingt es mir nicht jeden Tag, Selbstliebe, so, wie ich sie grade beschrieben habe, zu praktizieren. Ich bin ein Mensch und damit fehlbar, aber es gelingt mir immer besser, zu entdecken, was Selbstliebe alles beinhaltet und das macht mich glücklich.

Um mir darüber schlüssig zu werden, wie ich liebevoll mit mir umgehen kann, frage ich mich oft, was ich mir wohl raten würde oder was ich wohl für mich tun würde, wenn ich meine aller, allerbeste Freundin oder eine liebevolle, fürsorgliche Mutter wäre, die ihre Tochter bedingungslos unterstützt.

Würde eine fürsorgliche Mutter von  ihrer Tochter Höchstleistungen erwarten, wenn diese müde und quengelig ist? Wohl eher nicht. Sie würde ihr helfen, das Notwendige zu tun, z. B. indem sie ihr gut zuspricht und dann so schnell wie möglich dafür sorgen, dass sie sich ausruhen oder zurückziehen kann.

An diesem Wochenende übe ich das auch. Zurzeit brennt es auf der Arbeit an allen Ecken, mein Vater braucht in der  letzten Zeit viel Unterstützung und auch sonst jagen ein Ereignis und ein Termin den anderen. Solche Phasen kommen immer mal wieder vor  und gehören  zum Leben dazu. In meinem inneren Dialog bestätige ich mir, dass ich zurzeit mehr auf dem Teller habe als sonst und  sage mir, dass es deshalb umso wichtiger ist, gut auf mich selbst zu achten. Ich bestätige mir, dass ich belastbar bin und auch diese anstrengende Phase meistern werde.  Ich mache mir bewusst, wie viel ich jeden Tag geschafft habe und was ich gut gemacht habe. Ich achte darauf mindestens  einmal am Tag die Tür zu meinem Büro zuzumachen, tief Luft zu holen meine Schultern zu entspannen. Ich schicke mich selbst früh ins Bett und erlaube mir, die üblichen  Haushaltspflichten am Wochenende auf ein Minimum zu reduzieren. Ich sorge dafür, dass ich mich gut erhole und innerlich Abstand zum Alltag gewinne, indem ich ausschlafe, schöne Filme gucke, lese und lange spazieren gehe, eben alles tue, was mir Kraft gibt und mich entspannt. Denn morgen, am Montag beginnt wieder eine volle Arbeitswoche und auch im Privaten steht noch einiges an.

Sich selbst zu lieben bedeutet ja nicht, sich dem Leben zu entziehen  und eine Schonhaltung einzunehmen,  sondern in liebevoller Haltung sich selbst gegenüber das Leben in die Hand zu nehmen.

Ich habe große Lust, noch mehr über ‚Selbstliebe‘ zu schreiben. Würde Euch das interessieren?